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»… und hast seitdem gekifft oder gefixt, oder was auch immer …«

»Du bist echt ein Arsch!«, brüllte Reynir.

»Mach doch weiter mit der Geschichte«, rief Ösp. »Sag ihm das, was du mir gesagt hast, sag ihm alles!«

»Alles? Was meinst du damit?«, fragte Erlendur.

»Er hat mich gefragt, ob ich ihm einen Gefallen tun würde, bevor er zu der Weihnachtsfeier ging«, sagte Reynir. »Er sagte, dass die Zeit knapp sei, aber er hätte Geld und würde gut dafür bezahlen. Und als wir da gerade rummachten, ist diese alte Schrulle reingeplatzt.«

»Alte Schrulle?«

»Ja.«

»Was für eine alte Schrulle?«

»Die uns gestört hat.«

»Erzähl es ihm«, hörte man von Ösp, die hinter Erlendur stand. »Erzähl ihm, wer es war!«

»Über wen redest du?«

»Wir hatten vergessen abzuschließen, weil wir uns beeilen mussten, und auf einmal ging die Tür auf und sie ist da reingeschneit.«

»Wer?«

»Ich weiß nicht, wer das war. Irgendeine alte Tussi.«

»Und was geschah dann?«

»Ich weiß es nicht. Ich hab die Biege gemacht. Sie hat ihn angeschrien, und ich hab gemacht, dass ich wegkam.«

»Warum bist du nicht gleich mit diesen Informationen zu uns gekommen?«

»Ich hab nichts mit der Polizei am Hut. Hinter mir sind alle möglichen Leute her, und wenn die erfahren, dass ich mit den Bullen rede, glauben sie, dass ich sie verzinken will, und dann bin ich dran.«

»Wer war diese Frau, die euch gestört hat? Wie hat sie ausgesehen?«

»Ich hab sie mir nicht genau angeguckt. Ich hab gemacht, dass ich wegkam. Er klinkte völlig aus. Schob mich von sich weg, schrie irgendwas und klinkte völlig aus. Er schien eine Scheißangst vor ihr zu haben.«

»Was hat er geschrien?«

»Steffi.«

»Was?«

»Steffi. Das war das Einzige, was ich gehört habe. Steffi. Er hat sie Steffi genannt, und er hatte eine Scheißangst vor ihr.«

Zweiunddreißig

Sie stand vor der Tür zu seinem Zimmer und drehte ihm den Rücken zu. Erlendur blieb stehen, betrachtete sie eine Weile und sah, wie sie sich verändert hatte seit dem Augenblick, als sie zum ersten Mal mit ihrem Vater ins Hotel gerauscht kam. Jetzt war sie nur eine erschöpfte und müde Frau mittleren Alters, die immer noch allein mit ihrem querschnittsgelähmten Vater im gleichen Haus wohnte, das zeit ihres Lebens ihr Heim gewesen war. Aus Gründen, die er nicht kannte, war diese Frau womöglich ins Hotel gekommen und hatte ihren Bruder ermordet.

Sie schien zu spüren, dass er im Flur stand, denn auf einmal drehte sie sich um und blickte ihn an. Ihr war nicht anzusehen, was in ihr vorging. Er wusste nur, dass es diese Frau war, nach der er gesucht hatte, seitdem er zuerst das Hotel betreten und den Weihnachtsmann in seinem Blut vorgefunden hatte.

Sie stand unbeweglich an der Tür und sprach erst, als er direkt vor ihr stand.

»Ich muss dir noch etwas sagen«, sagte sie. »Falls es irgendwie von Bedeutung sein sollte.«

Erlendur ahnte, dass sie wegen der Lüge mit der Freundin zu ihm gekommen war, ihr jetzt die Zeit gekommen zu sein schien, die Wahrheit zu sagen. Er öffnete die Tür, sie trat vor ihm ein, ging zum Fenster und sah in das Schneetreiben hinaus.

»Das Wetteramt hatte grüne Weihnachten prophezeit«, sagte sie.

»Wirst du manchmal Steffi genannt?«, fragte er.

»Damals, als kleines Mädchen, ja«, sagte sie und starrte weiterhin aus dem Fenster.

»Hat dein Bruder dich Steffi genannt?«

»Ja, das hat er getan«, sagte sie. »Immer. Und ich habe ihn immer Gulli genannt. Warum fragst du danach?«

»Warum warst du fünf Tage vor dem Tod deines Bruders im Hotel?«

Stefania seufzte tief.

»Ich weiß, dass es falsch war, zu lügen.«

»Weswegen bist du gekommen?«

»Wegen seiner Platten. Wir waren der Meinung, dass uns auch ein Teil davon zustünde. Wir wussten, dass er eine ganze Menge davon besaß, wahrscheinlich den ganzen Rest der Auflage seinerzeit, der nicht verkauft wurde. Wir wollten an dem Gewinn teilhaben, falls er die Absicht hatte, sie zu verkaufen.«

»Wie ist er an die Auflage herangekommen?«

»Papa hat sie zugeschickt bekommen und zu Hause in Hafnarfjörður aufbewahrt. Als Guðlaugur auszog, hat er die Kartons einfach mitgenommen. Er fand, dass die Platten ihm gehörten, ihm und niemand anderem.«

»Wieso habt ihr gewusst, dass er verkaufen wollte?«

Stefania zögerte.

»Ich habe auch gelogen, was Henry Wapshott angeht. Ich kenne ihn ein wenig. Nicht besonders gut, aber ich hätte es dir sagen sollen. Hat er dir gegenüber nicht erwähnt, dass er sich mit uns getroffen hat?«

»Nein«, sagte Erlendur. »Der hat mit ganz anderen Problemen zu kämpfen. Ist überhaupt irgendetwas von dem, was du mir bisher erzählt hast, wahr?«

Sie antwortete ihm nicht.

»Warum sollte ich glauben, was du jetzt sagst?«

Stefania schwieg und beobachtete, wie der Schnee zur Erde fiel. Sie schien mit ihren Gedanken weit weg, schien in ein Leben zurückgekehrt zu sein, das sie vor langer Zeit gelebt hatte, als sie keine Lügen kannte und alles nur aus der Wahrheit bestand, wie frisch gefallener und reiner Schnee.

»Stefania?«, sagte Erlendur.

»Der Streit zwischen ihnen war nicht wegen seiner Stimme«, sagte sie plötzlich, »ich meine, als Papa die Treppe hinunterstürzte. Es war nicht wegen des Gesangs. Das war die letzte und größte Lüge.«

»Du meinst, als sie sich auf dem Treppenabsatz gestritten haben?«

»Weißt du, wie die Kinder in der Schule ihn nannten? Was für einen Spitznamen er hatte?«

»Ich glaube, ich weiß es«, sagte Erlendur.

»Sie haben ihn die ›Kleine Prinzessin‹ genannt.«

»Weil er im Chor gesungen hat und verwöhnt war und …«

»Weil sie ihn in einem Kleid von Mama gesehen haben«, unterbrach ihn Stefania.

Sie wandte sich vom Fenster ab.

»Es war nach ihrem Tod. Er vermisste sie in unvorstellbarem Maße, ganz besonders, als er kein Chorknabe mehr war und nur ein ganz normaler Junge mit einer ganz normalen Stimme. Papa wusste nichts davon, aber ich. Wenn Papa nicht zu Hause war, hat er sich manchmal Mamas Schmuck umgehängt und ihre Kleider angezogen und sich vor den Spiegel gestellt, und er schminkte sich sogar. Und einmal, es war im Sommer, haben ihn ein paar Jungen so gesehen, darunter auch Klassenkameraden von ihm. Sie spähten zum Wohnzimmerfenster hinein. Das haben sie manchmal gemacht, weil wir als etwas merkwürdig galten. Sie fingen an, ihn auszulachen, brutal, unbarmherzig und mitleidlos. Danach wurde er in der Schule nur noch verspottet. Die Kinder fingen an, ihn die ›kleine Prinzessin‹ zu nennen.«

Stefania schwieg eine Weile.

»Ich glaubte damals, dass er einfach nur Mama vermisst hat«, sagte sie dann. »Dass er versuchte, ihr nahe zu sein, indem er ihre Kleider anzog und ihren Schmuck trug. Ich glaubte nicht, dass es unnatürliche Gefühle waren. Aber dann kam etwas ganz anderes zutage.«

»Unnatürliche Gefühle?«, sagte Erlendur. »Ist das deine Einstellung dazu? Dein Bruder war homosexuell. Hast du ihm das nicht vergeben können? Hast du deswegen die ganzen Jahre keine Verbindung zu ihm gehabt?«

»Er war noch sehr jung, als unser Vater ihn einmal mit einem gleichaltrigen Jungen überrascht hat, als sie Dinge getrieben haben, die ich nicht beschreiben möchte. Ich wusste, dass er mit diesem Freund auf seinem Zimmer war, ich glaubte, sie würden zusammen lernen. Papa kam unerwartet nach Hause und suchte nach irgendwas, er ging in Gullis Zimmer und platzte in diese scheußliche, diese monströse Szene hinein. Er hat mir nie genau sagen wollen, was da los war. Als ich aus meinem Zimmer kam, sah ich, wie der Junge die Treppe hinuntersauste, die Hose hing ihm noch halb herunter. Papa und Gulli standen auf dem Flur und schrien einander an, und dann sah ich, wie Gulli ihm einen heftigen Stoß versetzte. Papa verlor das Gleichgewicht und stürzte die Treppe hinunter. Er ist nie wieder aufgestanden.«