Stefania drehte sich wieder zum Fenster und sah zu, wie der Weihnachtsschnee zur Erde rieselte. Erlendur schwieg und überlegte, was sie wohl dachte, wenn sie sich so wie jetzt in sich zurückzog. Er wusste es nicht, glaubte jedoch, eine Art Antwort zu bekommen, als sie das Schweigen endlich wieder brach.
»Mir hat nie jemand Aufmerksamkeit geschenkt«, sagte sie.
»Alles, was ich tat, war Nebensache. Ich sage das nicht aus Selbstmitleid, ich glaube, diese Zeiten sind längst vorbei.
Eher, weil ich versuche, zu verstehen und zu erklären, weswegen ich seit diesem Tag nie wieder Verbindung zu ihm aufgenommen habe. Manchmal glaube ich, dass ich einfach froh darüber war, wie alles gelaufen ist. Kannst du dir das vorstellen?«
Erlendur schüttelte den Kopf.
»Als er weg war, stand ich plötzlich im Mittelpunkt, nicht er. Nie wieder er. Und auf eine seltsame Weise war ich glücklich darüber und froh, dass er nicht dieser große Kinderstar wurde, der er hätte werden sollen. Ich nehme an, dass ich ihn die ganze Zeit beneidet habe, um die Aufmerksamkeit, die er bekam, und um die Stimme, die er als Kind hatte. Sie war übernatürlich schön. Es war, als wäre er mit all diesen Talenten gesegnet, während ich völlig talentlos war und auf dem Klavier herumhämmerte wie ein Trampel. So hat mein Papa sich ausgedrückt, als er versuchte, mir Klavierunterricht zu geben. Er sagte, ich sei völlig untalentiert. Trotzdem schaute ich zu ihm auf, denn ich glaubte, er hätte immer in allem Recht. Er war oft gut zu mir, und nachdem er völlig hilflos geworden war, besaß ich zumindest das Talent, für ihn zu sorgen, und das bedeutete natürlich alles für ihn. Und so vergingen die Jahre, eines nach dem anderen, ohne dass sich irgendetwas änderte. Gulli hatte uns verlassen, Papa war gelähmt, und ich sorgte für ihn. Ich habe niemals an mich selber gedacht, was ich selber wollte. So können die Jahre vergehen, ohne dass man irgendetwas anderes macht, als in den festen Bahnen zu leben, die man sich selber gesetzt hat. Jahr für Jahr für Jahr.«
Sie schwieg eine Weile und starrte in den Schnee hinaus.
»Wenn man dann auf einmal zu spüren beginnt, dass das womöglich alles gewesen sein soll, was man im Leben erreicht hat, fängt man an zu hassen — und nach einem Sündenbock zu suchen. Und ich fand plötzlich, dass mein Bruder die Schuld an allem trug. Mit der Zeit begann ich ihn zu hassen, ihn und seine perversen Neigungen, die unser Leben zerstört hatten.«
Erlendur wollte etwas sagen, aber sie sprach weiter.
»Ich weiß nicht, wie ich das besser beschreiben soll. Wenn man sich in sein eigenes, monotones Leben vergräbt, wegen etwas, das sich dann viele Jahre später als völlig unbedeutend herausstellt und überhaupt keine Rolle mehr spielt. Und in der Tat völlig belanglos ist.«
»Soweit wir verstanden haben, hat er es so aufgefasst, dass er seiner Jugend beraubt worden ist«, sagte Erlendur. »Dass er nicht der sein durfte, der er sein wollte, sondern gezwungen wurde, etwas ganz anderes zu sein; Solist, Kinderstar. Er bekam das zu spüren, als er in der Schule deswegen gehänselt wurde. Und dann scheitert das Ganze! Hinzu kommen ›unnatürliche Gefühle‹, wie du es ausdrückst. Ich glaube, dass es ihm alles andere als gut gegangen ist. Vielleicht wollte er diese ganze Aufmerksamkeit gar nicht, nach der du dich offensichtlich gesehnt hast.«
»Seiner Jugend beraubt«, wiederholte Stefania. »Das kann gut sein.«
»Hat dein Bruder irgendwann versucht, mit deinem Vater oder dir über seine Homosexualität zu reden?«, fragte Erlendur.
»Nein, aber man kann sich ja denken, worauf das hinausgelaufen wäre. Ich weiß auch nicht, ob er sich selber darüber völlig im Klaren war, was da mit ihm geschah. Darüber weiß ich gar nichts. Ich glaube nicht, dass er gewusst hat, warum er sich Mamas Kleider anzog. Ich weiß nicht, wie und wann die Leute feststellen, dass sie anders sind.«
»Auf irgendeine seltsame Weise hat er diesen Spitznamen gemocht«, sagte Erlendur. »Er hat das Plakat in seinem Zimmer hängen, und wir wissen, dass …« Erlendur verstummte mitten im Satz. Er wusste nicht, ob er von Guðlaugurs Liebhaber erzählen sollte, der ihn die kleine Prinzessin nennen sollte.
»Darüber weiß ich nichts«, sagte Stefania, »außer natürlich, dass er dieses Plakat da bei sich an der Wand hängen hatte. Vielleicht hat er sich selber auch mit den Erinnerungen an das, was passiert war, gequält. Vielleicht waren sie mit etwas verbunden, was wir nie begreifen werden.«
»Wie hast du Henry Wapshott kennen gelernt?«
»Er kam eines Tages zu uns und wollte mit Papa und mir über Gullis Platten reden. Er wollte wissen, ob wir noch welche besäßen. Das war voriges Jahr zu Weihnachten. Er hatte sich bei irgendwelchen Sammlern Informationen über uns, also Guðlaugur Egilsson und dessen Familie, beschafft, und er hat uns gesagt, dass seine Platten in anderen Ländern großen Wert besäßen. Er hatte mit meinem Bruder gesprochen, der ihm aber nichts verkaufen wollte, bis er plötzlich seine Meinung geändert hat und bereit war, dem Engländer alles zu überlassen, was er haben wollte.«
»Und ihr wolltet euren Anteil an dem Profit, oder was?«
»Wir fanden das nur recht und billig. Die Platten gehörten nicht nur ihm, sondern genauso gut unserem Vater, zumindest waren wir der Meinung. Unser Vater hat diese Platten mit seinem eigenen Geld finanziert.«
»Waren es nennenswerte Summen, die Wapshott euch angeboten hat?«
Stefania nickte abwesend.
»Millionen.«
»Das stimmt mit unseren Informationen überein.«
»Er hat genug Geld, dieser Wapshott. Wenn ich richtig verstanden habe, wollte er die ganze Auflage kaufen, um zu verhindern, dass zu viele Platten auf den Sammlermarkt gelangen. Er hat ganz offen darüber geredet und war bereit, ungeheure Summen für sämtliche Exemplare zu bezahlen. Ich glaube, dass es ihm in diesem Jahr gelungen ist, Guðlaugur auf seine Seite zu ziehen. Wahrscheinlich hat sich daran aber etwas geändert, denn sonst hätte er ihn wohl nicht angegriffen.«
»Ihn angegriffen? Wie meinst du das?«
»Habt ihr ihn denn nicht festgenommen?«
»Ja«, sagte Erlendur, »aber wir haben keine Beweise gegen ihn in der Hand, dass er wirklich der Täter ist. Was meinst du damit, dass sich etwas geändert hat?«
»Wapshott kam zu uns nach Hafnarfjörður und sagte, er hätte Guðlaugur dazu gebracht, ihm die komplette Auflage zu verkaufen, und er wollte sicherstellen, dass es wirklich nicht noch mehr Exemplare gab. Wir sagten ihm, dass das nicht der Fall wäre. Er fragte nach Papa …«
»Hat dich dein Vater dann zu Guðlaugur geschickt?«
»Nein, das hätte er nie getan. Seit dem Unfall durfte sein Name nicht mehr genannt werden.«
»Aber Guðlaugur hat als Erstes nach ihm gefragt, als er dich im Hotel gesehen hat.«
»Ja. Wir gingen hinunter in seine Kammer, und ich fragte ihn, wo die Platten wären.«
»Die sind an einem sicheren Ort«,sagte Guðlaugur und lächelte seine Schwester an. »Henry hat mir gesagt, dass er mit dir gesprochen hat.«
»Er hat uns gesagt, dass du bereit bist, ihm die Platten zu verkaufen. Papa ist der Meinung, dass die Hälfte davon ihm gehört, und deswegen wollen wir die Hälfte von dem Preis, den du dafür bekommst.«
»Ich habe meine Meinung geändert«,sagte Guðlaugur. »Ich werde niemandem was verkaufen.«
»Was hat Wapshott dazu gesagt?«
»Das hat ihm gar nicht gefallen.«
»Er bietet dir gutes Geld dafür an.«