»Ich kann mehr dafür bekommen, wenn ich sie selber einzeln verkaufe. Bei Sammlern besteht großes Interesse daran.
Ich glaube nämlich, dass Wapshott dasselbe vorhat, auch wenn er sagt, er wolle sie nur kaufen, um sie aus dem Verkehr zu ziehen. Ich habe den Eindruck, dass er lügt. Er will sie verkaufen und an mir verdienen. An mir wollten früher alle verdienen, nicht zuletzt Papa, und das hat sich kein bisschen geändert. Kein bisschen.«
Sie blickten einander lange an.
»Komm nach Hause und sprich mit Papa«,sagte sie. »Er wird nicht mehr lange leben.«
»Hat Wapshott mit ihm gesprochen?«
»Nein, er war nicht zu Hause, als Wapshott kam. Ich habe Papa von ihm erzählt.«
»Und was hat er dazu gesagt?«
»Nichts. Nur, dass er seinen Anteil haben wollte.«
»Und was ist mit dir?«
»Mit mir?«
»Warum bist du immer bei ihm geblieben? Warum hast du nie geheiratet und eine eigene Familie gegründet? Das ist nicht dein Leben, was du lebst, sondern seins. Wo ist dein Leben?«
»Wahrscheinlich hinter dem Rollstuhl, in den du ihn gebracht hast«,stieß Stefania hervor. »Untersteh dich, nach meinem Leben zu fragen.«
»Er hat dieselbe Macht über dich wie früher über mich.«
Der Zorn stieg in Stefania hoch.
»Irgendjemand musste sich um ihn kümmern. Sein Augenstern, sein Star war ein Schwuler, der ihn die Treppe hinuntergestoßen hat und seitdem nicht gewagt hat, mit ihm zu reden. Sitzt lieber nachts zu Hause bei ihm herum und schleicht sich weg, bevor er aufwacht. Was für eine Macht hat er über dich? Du glaubst, dass du ihn ein für alle Mal losgeworden bist, aber sieh dich an! Sieh dich doch endlich einmal an! Was ist aus dir geworden? Sag mir das! Du bist ein Niemand! Eine verkrachte Existenz!«
Sie verstummte.
»Entschuldige«,sagte er, »ich hätte nicht davon anfangen sollen.«
Sie antwortete ihm nicht.
»Hat er nach mir gefragt?«
»Nein.«
»Spricht er nie über mich?«
»Nein, niemals.«
»Er findet es unerträglich, wie ich lebe. Er findet es unerträglich, wie ich bin. Er findet mich unerträglich. Nach all diesen Jahren.«
»Warum hast du mir das nicht sofort gesagt?«, fragte Erlendur. »Warum dieses Versteckspiel?«
»Versteckspiel? Kannst du dir das nicht vorstellen? Ich wollte nicht über meine Familienangelegenheiten reden. Ich glaubte, dass ich uns abschirmen könnte, unser Privatleben.«
»Hast du da deinen Bruder zum letzten Mal getroffen?«
»Ja.«
»Bist du ganz sicher?«
»Ja.« Stefania schaute ihn an. »Was willst du damit andeuten?«
»Hast du ihn nicht mit einem Jungen bei der gleichen Beschäftigung erwischt wie damals, als dein Vater die Beherrschung verlor? Damals war das der Beginn deiner Lebensmisere, und dem wolltest du jetzt ein Ende machen.«
»Nein. Was …?«
»Wir haben einen Zeugen.«
»Zeugen?«
»Den Jungen, der bei ihm war. Ein junger Mann, der deinem Bruder gegen Bezahlung gewisse Gefälligkeiten erwiesen hat. Du hast sie in dem Kellerloch überrascht, der Junge hat das Weite gesucht, und du bist auf deinen Bruder losgegangen. Hast ein Messer auf dem Tisch liegen sehen und hast ihn attackiert.«
»Das ist nicht wahr«, sagte Stefania, die spürte, dass es Erlendur ernst war mit dem, was er gesagt hatte, dass sich der Verdacht jetzt gegen sie richtete. Sie starrte Erlendur an, als traute sie ihren Ohren nicht.
»Es gibt einen Zeugen …«, begann Erlendur, konnte aber den Satz nicht zu Ende bringen.
»Was für einen Zeugen, über welchen Zeugen redest du eigentlich?«
»Leugnest du, deinen Bruder getötet zu haben?«
Das Zimmertelefon klingelte, und noch bevor Erlendur abheben konnte, begann sein Handy in der Jackentasche ebenfalls zu klingeln. Er entschuldigte sich bei Stefania, die ihm einen Blick zuwarf.
»Ich muss das Gespräch entgegennehmen.«
Stefania wandte sich ab, und er sah, wie sie eine von Guðlaugurs Platten aus der Hülle nahm. Während Erlendur den Hörer des Zimmertelefons abnahm, betrachtete sie die Platte. Sigurður Óli war in der Leitung. Erlendur nahm das Gespräch auf dem Handy entgegen und bat um einen Augenblick Geduld.
»Mich hat da ein Mann wegen des Mordes im Hotel angerufen, und ich habe ihm deine Handynummer gegeben«, sagte Sigurður Óli. »Hat er dich schon erreicht?«
»Da ist jemand bei mir auf dem Handy«, sagte Erlendur.
»Meines Erachtens haben wir den Fall geklärt. Sprich mit ihm, und dann melde dich wieder. Ich schicke drei Wagen hin, Elinborg wird mitkommen.«
Erlendur legte auf und griff wieder nach dem Handy. Er kannte die Stimme nicht, aber der Mann stellte sich vor und begann dann zu erzählen. Kaum hatte er angefangen, wurde Erlendurs Verdacht bestätigt, und er begriff die ganzen Zusammenhänge. Sie sprachen eine ganze Zeit miteinander, und am Ende des Gesprächs bat Erlendur den Mann, ins Dezernat zu kommen und alles zu Protokoll zu geben. Dann rief er Elinborg an und gab ihr Anweisungen.
Er stellte das Handy ab und wandte sich wieder Stefania zu, die Guðlaugurs Platte aufgelegt hatte.
»Manchmal waren früher«, sagte sie, »wenn diese Platten aufgenommen wurden, gewisse Nebengeräusche zu hören, weil man nicht sonderlich sorgfältig arbeitete. Die Aufnahmetechnik war noch nicht so gut und auch nicht die Studios. Man kann sogar den Straßenverkehr hören. Wusstest du das?«
»Nein«, sagte Erlendur und hatte keine Ahnung, worauf sie hinaus wollte.
»Das kann man beispielsweise bei dieser Platte hören, wenn man darauf achtet. Ich glaube aber, dass nur die das bemerken, die davon wissen.«
Sie stellte den Apparat lauter. Erlendur lauschte konzentriert, und mitten im Lied hörte er ein anderes Geräusch.
»Was ist das?«, fragte er.
»Das ist Papa«, sagte Stefania.
Sie spielte die Passage wieder, und jetzt hörte Erlendur das Nebengeräusch deutlich, ohne zu wissen, was es war.
»Ist das euer Vater?«, fragte Erlendur.
»Er sagt ihm, dass er eine Engelsstimme hat«, sagte Stefania und schien mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein. »Er stand in der Nähe des Mikrofons und konnte sich nicht zurückhalten.«
Sie schaute Erlendur an.
»Mein Vater ist gestern Abend gestorben«, sagte sie. »Er hatte sich nach dem Abendessen etwas auf dem Sofa hingelegt und schlief ein, und aus diesem Schlummer ist er nicht mehr erwacht. Als ich ins Wohnzimmer kam, habe ich sofort gewusst, dass er tot war. Ich habe es gespürt, bevor ich ihn berührt habe. Der Arzt sagt, es war ein Herzinfarkt. Deswegen bin ich hier zu dir ins Hotel gekommen, um reinen Tisch zu machen. Das alles spielt keine Rolle mehr. Nicht für ihn, und auch nicht mehr für mich. Nichts von alledem spielt noch eine Rolle.«
Sie spielte den kleinen Ausschnitt ein drittes Mal, und jetzt glaubte Erlendur zu hören, was dort gesagt wurde, nur ein Wort, das wie eine Fußnote zu dem Gesang war.
Engelsstimme.
»Ich bin an dem Tag, als er ermordet wurde, hier unten zu ihm in den Keller gegangen, um ihm zu sagen, dass Papa ihn sehen und sich mit ihm versöhnen wollte. Ich hatte ihm nämlich gesagt, dass Gulli den Schlüssel zu unserem Haus aufbewahrt hatte und sich manchmal heimlich ins Haus geschlichen und im Wohnzimmer gesessen hatte, ohne dass wir ihn bemerkten. Ich wusste nicht, wie Gulli darauf reagieren würde, ob er Papa treffen wollte, oder ob es hoffnungslos wäre, sie auszusöhnen, aber ich wollte es versuchen. Die Tür zu seinem Zimmer stand offen …«