Ösp sprühte Glasreiniger auf den Spiegel im Badezimmer und zeigte keinerlei Reaktion.
»Aber mein Bruder hat sie gesehen«, sagte sie. »Er hat gesehen, wie sie auf ihren Bruder eingestochen hat. Das kann sie nicht leugnen. Sie kann nicht leugnen, dass sie da gewesen ist.«
»Nein«, sagte Erlendur. »Sie war unten im Keller, als er starb. Bloß war es nicht sie, die ihn erstochen hat.«
»Doch, Reynir hat es gesehen«, sagte sie. »Sie kann das nicht abstreiten.«
»Wie viel schuldest du ihnen?«
»Schulde was?«
»Wie viel?«
»Schulde ich wem? Worüber redest du eigentlich?«
Ösp bearbeitete den Spiegel, als ginge es um Leben und Tod, als würde die Maske fallen, wenn sie damit aufhören würde, als wäre das gleichbedeutend mit einer Kapitulation. Sie sprühte, rieb und putzte — und vermied es, sich selber im Spiegel in die Augen zu schauen.
Erlendur schaute ihr zu, und ihm fiel ein Satz aus einem Buch über Armenhäusler früherer Zeiten ein: Sie war ein Stiefkind dieser Welt.
»Meine Mitarbeiterin Elinborg hat sich gerade eben deine Kartei bei der Notaufnahme angeschaut«, sagte er. »Bei der Notaufnahme für Vergewaltigungsopfer. Es gibt da vor ungefähr einem halben Jahr einen Eintrag. Es waren drei, in einer Hütte da oben am Rauðavatn. Mehr hast du nicht ausgesagt. Du hast gesagt, du wüsstest nicht, wer es gewesen ist. Sie haben dich am Freitagabend in der Innenstadt gekidnappt, sind mit dir im Auto zu dieser Hütte gefahren und haben dich einer nach dem anderen vergewaltigt.«
Ösp putzte weiter den Spiegel, ohne ihn anzuschauen.
Erlendur konnte nicht erkennen, ob das, was er sagte, sie irgendwie aus der Fassung brachte.
»Du hast dich geweigert zu sagen, wer sie waren, und du wolltest keine Anzeige gegen sie erstatten.«
Ösp sagte keinen Ton.
»Du hast den Job hier im Hotel, aber das reicht nicht, um deine Schulden abzuzahlen, und ebenso wenig reicht es für deinen täglichen Konsum. Du hast sie mit kleinen Raten auf Distanz halten wollen. Klar, dass du das versucht hast, du kriegst ja auch immer wieder was von ihnen, aber sie haben dir trotzdem gedroht, und du weißt, dass sie sich nicht scheuen, ihre Drohungen wahr zu machen.«
Ösp vermied es, ihn anzusehen.
»Hier im Hotel wird überhaupt nicht gestohlen, nicht wahr?«, sagte Erlendur. »Das hast du nur gesagt, um uns zu täuschen, um den Verdacht in eine andere Richtung zu lenken.«
Erlendur hörte Geräusche auf dem Gang. Elinborg und vier Polizisten erschienen draußen vor der Tür. Er gab ihnen ein Zeichen, zu warten.
»Dein Bruder ist in derselben Lage wie du. Vielleicht habt ihr ja sogar ein gemeinsames Konto bei denen, keine Ahnung. Ihn haben sie genommen und brutal zusammengeschlagen. Er hat auch Drohungen bekommen. Eure Eltern haben Drohungen bekommen. Ihr traut euch nicht, diese Typen anzuzeigen. Die Polizei kann nichts unternehmen, weil es nur Drohungen sind. Und wenn sie euch was tun, wenn sie dich in der Innenstadt kidnappen und dich in einer Hütte am Rauðavatn vergewaltigen, dann weigerst du dich zu sagen, wer es war. Wie dein Bruder.«
Erlendur schwieg eine Weile und beobachtete sie.
»Vorhin hat mich ein Mann angerufen. Er arbeitet bei der Polizei, im Rauschgiftdezernat. Er wird manchmal von Leuten angerufen, die ihm etwas zutragen, wenn sie irgendwas auf der Straße und in der Drogenszene hören. Er bekam spätabends einen Anruf von einem Mann, der berichtete, ihm sei von einem jungen Mädchen erzählt worden, das vor einem halben Jahr vergewaltigt wurde. Sie wäre bisher immer in argen Schwierigkeiten gewesen wegen ihrer Schulden bei den Dealern, bis sie plötzlich vor zwei Tagen die ganzen Schulden mit einem Mal bezahlt hat. Für sich und für ihren Bruder. Kommt dir das bekannt vor?«
Ösp schüttelte den Kopf.
»Du weißt also gar nichts darüber?«, fragte Erlendur noch einmal. »Der Mann, der da im Rauschgiftdezernat angerufen hat, kannte den Namen des Mädchens und wusste, dass sie in dem Hotel arbeitete, wo der Weihnachtsmann ermordet worden ist.«
Noch einmal schüttelte Ösp den Kopf.
»Wir wissen, dass da unten in Guðlaugurs Kammer mindestens eine halbe Million gewesen ist«, sagte Erlendur.
Sie hörte auf, den Spiegel zu putzen, die Hände sanken langsam herab, und sie starrte sich selbst im Spiegel an.
»Ich habe versucht aufzuhören.«
»Mit Dope?«
»Es hat keinen Zweck. Und die kennen keine Gnade, falls man ihnen etwas schuldet.«
»Willst du mir sagen, wer das ist?«
»Ich wollte ihn nicht umbringen. Er war immer nett zu mir. Aber dann …«
»Hast du das Geld gesehen?«
»Ich brauchte Geld.«
»War das wegen des Geldes? Bist du wegen des Geldes über ihn hergefallen?«
Sie antwortete ihm nicht.
»Hast du nichts von diesem Verhältnis zwischen Guðlaugur und deinem Bruder gewusst?«
Ösp schwieg.
»War es das Geld? Oder war es wegen deines Bruders?«
»Vielleicht wegen beidem«, sagte Ösp leise.
»Du wolltest das Geld.«
»Ja.«
»Und er hat deinen Bruder missbraucht.«
»Ja.«
Sie sah ihren Bruder vor ihm knien, sie sah den Haufen Geld auf dem Bett, und aus den Augenwinkeln sah sie das Messer. Ohne einen Augenblick zu zögern, ergriff sie das Messer und stach auf ihn ein. Er versuchte, sie mit den Händen abzuwehren, aber sie achtete nicht darauf, sondern stach immer und immer wieder zu, bis er aufhörte, sich zu wehren und gegen die Wand zurücksank. Blut spritzte aus der Herzwunde.
Das Messer war blutig, und sie hatte Blut an den Händen. Es war auch etwas auf ihren Kittel gespritzt. Ihr Bruder war aufgesprungen und in Richtung Treppe gelaufen.
Guðlaugur stöhnte schwer.
Tödliches Schweigen herrschte in der Kammer. Sie starrte Guðlaugur an und das Messer in ihren Händen. Plötzlich tauchte Reynir auf.
»Da kommt jemand die Treppe runter«,zischte er.
Er nahm das Geld, packte seine Schwester, die immer noch starr vor dem Bett stand, und zerrte sie mit sich auf den Gang, in die dunkle Nische am Ende des Korridors. Sie wagten kaum zu atmen, als sich die Frau näherte. Sie schaute in die Dunkelheit hinein, konnte sie aber nicht sehen.
Als sie in der Tür erschien, stieß sie einen Schrei aus, und dann hörten sie Guðlaugur.
»Steffi?«,ächzte er. Dann hörten sie nichts mehr.
Die Frau ging in das Zimmer hinein, und sie sahen, wie sie sofort wieder herausgetaumelt kam. Sie stolperte rückwärts, bis sie an die Wand des Flurs stieß, drehte sich um und hastete den Gang hinunter, ohne sich ein einziges Mal umzublicken.
»Den Kittel habe ich weggeworfen und mir einen anderen geholt. Reynir hat sich aus dem Staub gemacht. Ich konnte nichts anderes machen, als weiterzuarbeiten. Sonst hättet ihr sofort alles aufgedeckt, der Meinung war ich jedenfalls. Dann wurde ich nach unten geschickt, um ihn zur Weihnachtsfeier zu holen. Ich konnte das nicht ablehnen.
Ich durfte nichts tun, was irgendeinen Verdacht auf mich gelenkt hätte. Ich ging nach unten und wartete auf dem Korridor. Die Tür zu seinem Zimmer stand noch immer offen, aber ich bin nicht hineingegangen. Ich ging wieder nach oben und sagte, ich hätte ihn in der Kammer gefunden, und dass ich ihn für tot hielt.«
Ösp schaute auf den Boden.
»Das Schlimmste ist, dass er immer nett zu mir gewesen ist. Deswegen bin ich vielleicht so ausgerastet. Weil er einer von den wenigen hier im Haus war, die nett zu mir waren, und dann stellt sich heraus, dass er meinen Bruder als Strichjungen benutzt hat. Nach all dem …«
»Nach all dem, was sie dir angetan haben?«, fragte Erlendur.