Sein Sohn war Alkoholiker und hatte einige Entziehungskuren hinter sich.
Ihm war klar, was Eva gemeint hatte, als sie erklärte, sie wüsste nicht, ob sie es durchhalten würde. Sie hatte keine Entzugstherapie mitgemacht. Hatte keine Institution aufgesucht, um Hilfe bei ihrem Problem zu bekommen, sondern den Kampf von sich aus und allein aufgenommen. Sie war schon immer verschlossen und schwierig gewesen und hatte sich quer gelegt, wenn die Rede auf ihre Lebensweise kam. Sie hatte es nicht geschafft, loszukommen, als sie schwanger wurde. Sie versuchte es und konnte zwischendurch mal eine Zeit aufhören, hatte aber nicht die Kraft, um ganz und gar damit aufzuhören. Versuchte es aber, und Erlendur wusste, dass es ihr ernst damit war, aber sie war zu labil und schaffte die Kurve nicht. Er wusste nicht, weswegen sie so abhängig von diesem Gift war, dass es wichtiger für sie war als alles andere im Leben. Er kannte nicht die Gründe für diese Zerstörung, wusste aber wohl, dass er sie auf eine gewisse Weise im Stich gelassen hatte. Dass er in irgendeiner Form auch die Schuld daran trug, wie es um sie stand.
Er hatte im Krankenhaus an Eva Linds Bett gesessen, als sie im Koma lag, weil der Arzt ihm gesagt hatte, dass sie möglicherweise seine Stimme hören und vielleicht sogar seine Nähe spüren könnte. Einige Tage später war sie wieder zu Bewusstsein gekommen, und als Erstes hatte sie darum gebeten, ihren Vater zu sehen. Sie war so schwach gewesen, dass sie kaum sprechen konnte. Als er kam, schlief sie, und er setzte sich zu ihr und wartete darauf, dass sie aufwachte.
Als sie endlich die Augen öffnete und ihn erblickte, war es, als würde sie versuchen zu lächeln, fing aber an zu weinen, und er stand auf und umarmte sie. Sie zitterte in seinen Armen, er versuchte, sie zu beruhigen, bettete sie wieder in die Kissen und wischte ihr die Tränen ab.
»Wo bist du diese langen Tage gewesen?«, fragte er, streichelte ihr die Wangen und versuchte, aufmunternd zu lächeln.
»Wo ist das Baby?«, fragte sie.
»Haben sie dir nicht gesagt, was passiert ist?«
»Ich habe es verloren. Sie haben mir aber nicht gesagt, wo es ist. Ich habe es nicht zu sehen bekommen. Sie trauen mir das nicht …«
»Es hat nicht viel gefehlt, und ich hätte dich verloren.«
»Wo ist es?«
Erlendur hatte das tot geborene Kind im OP gesehen, ein Mädchen, das vielleicht den Namen Auður erhalten hätte.
»Möchtest du das Kind sehen?«, fragte er.
»Verzeih«, sagte Eva leise.
»Was?«
»Wie ich bin. Wie ich das Kind …«
»Ich brauche dir nicht zu verzeihen, wie du bist, Eva. Du brauchst mich nicht um Verzeihung zu bitten dafür, wie du bist.«
»Doch.«
»Dein Schicksal bestimmst du nicht allein.«
»Willst du …?«
Eva Lind verstummte und lag vollkommen erschöpft da.
Erlendur wartete still, während sie wieder Kräfte sammelte. Es verging eine lange Zeit. Schließlich blickte sie ihren Vater an.
»Willst du mir helfen, sie zu beerdigen?«, fragte sie.
»Natürlich«, sagte er.
»Ich möchte sie sehen«, sagte Eva.
»Glaubst du, dass …?«
»Ich will sie sehen«, wiederholte sie. »Bitte mach, dass ich sie sehen kann.«
Erlendur zögerte, ging aber dann doch in die Anatomie und holte die Leiche des Mädchens, das er im Stillen Auður nannte. Er wollte nicht, dass es namenlos blieb. Er trug sie in einem weißen Handtuch durch die Krankenhauskorridore, denn Eva war zu schwach, um sich zu bewegen, und er brachte das totgeborene Kind zu ihr auf die Intensivstation. Eva nahm ihr Kind entgegen, betrachtete es und schaute dann zu ihrem Vater hoch.
»Das ist meine Schuld«, sagte sie leise. Erlendur war überzeugt, dass sie in Tränen ausbrechen würde. Er war überrascht, als sie das nicht tat. Über ihr lag eine Ruhe, die den Ekel verhüllte, den sie vor sich selber verspürte.
»Du darfst ruhig weinen«, sagte er. Eva schaute ihn an.
»Ich habe es nicht verdient, zu weinen«, sagte sie. Auf dem Friedhof in Fossvogur hatte sie im Rollstuhl gesessen und mit versteinerter Miene zugeschaut, wie der Pfarrer mit einer kleinen Schaufel Erde auf den Sarg warf. Sie stand unter Mühen auf und wehrte Erlendur ab, als er ihr helfen wollte. Sie machte das Zeichen des Kreuzes über dem Grab ihrer Tochter, und ihre Lippen bewegten sich, aber Erlendur wusste nicht, ob sie mit den Tränen kämpfte oder ein stilles Gebet sprach.
Das war an einem schönen Frühlingstag gewesen, die Sonne glitzerte auf der Meeresbucht, und man konnte Spaziergänger sehen, die in der Nähe von Nauthólsvík unterwegs waren und das schöne Wetter genossen. Halldóra stand etwas abseits und Sindri Snær am Rand des Grabs, aber er hielt Distanz zu seinem Vater. Sie konnten kaum weiter voneinander entfernt sein, eine Gruppe entzweiter Menschen, die nichts anderes gemeinsam hatten, als dass ihr Leben eine Qual war. Erlendur ging es auf, dass die Familie seit mehr als einem Vierteljahrhundert nicht mehr so zusammengestanden hatte. Er schaute zu Halldóra herüber, die es vermied, ihn anzusehen. Er redete nicht mit ihr und sie nicht mit ihm.
Eva Lind ließ sich in den Rollstuhl zurückfallen, Erlendur beugte sich über sie und hörte sie stöhnen:
»Dieses Scheißleben.«
Erlendur schreckte aus seinen Gedanken hoch, als er sich plötzlich an etwas erinnerte, was der Mann von der Rezeption gesagt hatte. Er hatte vorgehabt, eine Erklärung zu verlangen, es dann aber vergessen. Er stand auf, blickte den Korridor entlang und sah, wie der Mann im Aufzug verschwand. Eva Lind war nirgends zu sehen. Er rief dem Mann hinterher. Der stoppte die Aufzugtür, kam wieder aus dem Aufzug heraus und musterte Erlendur in Unterhosen und mit Oberbett von oben bis unten.
»Was hast du damit gemeint, als du gesagt hast wegen dem, was passiert ist‹?«, fragte Erlendur.
»Wegen dem, was passiert ist?«, wiederholte der Mann etwas überrascht.
»Du hast gesagt, ich dürfte kein Mädchen auf dem Zimmer haben, wegen dem, was passiert ist.«
»Ja.«
»Du meinst, was mit dem Weihnachtsmann im Keller passiert ist.«
»Ja, und was weißt du eigentlich darüber?«
Erlendur schaute auf seine Unterhose und zögerte einen Augenblick.
»Ich bin mit der Ermittlung befasst«, sagte er. »Mit der polizeilichen Ermittlung.«
Der Mann starrte ihn an und konnte seine ungläubige Miene nicht verhehlen.
»Wieso bringst du diese Dinge miteinander in Verbindung?«, beeilte Erlendur sich zu sagen.
»Ich verstehe nicht«, sagte der Mann und trat von einem Fuß auf den anderen.
»Das hört sich so an, als ob es ganz in Ordnung gewesen wäre, mit einem Mädchen auf dem Zimmer zu sein, wenn der Weihnachtsmann nicht umgebracht worden wäre. So hast du das gesagt. Verstehst du jetzt, worauf ich hinauswill?«
»Nein«, sagte der Mann. »Habe ich gesagt« wegen dem, was passiert ist »? Ich kann mich nicht erinnern.«
»Genau das hast du gesagt. Das Mädchen dürfte nicht bei mir sein, wegen dem, was passiert ist. Du hast geglaubt, dass meine Tochter eine …« Erlendur versuchte es vorsichtig zu formulieren, aber es gelang ihm nicht. »Du hast geglaubt, dass meine Tochter eine Nutte ist, und bist gekommen, um sie rauszuwerfen, weil der Weihnachtsmann ermordet wurde. Wenn das nicht passiert wäre, wäre es ganz in Ordnung gewesen, ein Mädchen auf dem Zimmer zu haben. Gestattet ihr, dass Mädchen auf die Zimmer gehen? Wenn alles in normalen Bahnen verläuft.«