Die Frachter würden bis zum Erreichen des Hypernet-Portals jedem Angreifer schutzlos ausgeliefert sein. Die Leichten Kreuzer und die Jäger der Schlangen konnten zwar nicht Marphissas Kriegsschiffe vernichten, doch sie waren ohne Weiteres in der Lage, einen trägen Frachter nach dem anderen zu eliminieren.
So etwas habe ich noch nie gemacht. Wie kann ich diese Frachter retten? Kann ich sie überhaupt retten?
Sechzehn
Nachdenklich biss sich Marphissa auf die Unterlippe. Es würde schwer werden, sich gegen Angriffe auf die Frachter zur Wehr zu setzen. »Wir müssen dicht bei den Frachtern bleiben. Genau über ihnen.«
Eine leichte Berührung an der Schulter ließ sie aufblicken — genau in Bradamonts Gesicht. Sie sah Marphissa an und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Marphissa warf einen Blick auf ihr Display, dann stand sie abrupt auf. »Bin gleich zurück«, sagte sie zu Diaz und verließ abermals die Brücke.
Wie erwartet war Bradamont ihr auf den Fersen. »Wir müssen reden«, sagte die Allianz-Offizierin. »In Ihrem Quartier.«
Dort angekommen verschloss sie die Luke, kaum dass Bradamont eingetreten war. »Was wollen Sie? Ich weiß nicht, wie ich das lösen soll. Ich habe andere Operationen geleitet, ich verfüge über einige Erfahrung. Aber der Schutz eines Konvois? Das eine Mal, als ich so etwas Ähnliches mitgemacht habe, hatte ich den untersten Junior Executive-Dienstgrad inne. Da war ich nicht mal auf der Brücke.«
»Ich weiß, was zu tun ist«, gab Bradamont zurück.
»Fangen Sie jetzt bitte nicht mit der Geschichte an, wie Black Jack bei Grendel einen Konvoi gerettet ha …«
»Das war etwas ganz anderes. Da war er zahlenmäßig erheblich unterlegen. Sie haben demgegenüber einen zahlenmäßigen Vorteil gegenüber den feindlichen Kriegsschiffen in diesem System. Den können Sie nutzen, um das Hypernet-Portal zu erreichen, ohne dabei auch nur einen Frachter zu verlieren.«
»Wenn Sie wissen, was zu tun ist, dann sollten Sie …«
»Nein, Sie haben das Kommando. Ich sage Ihnen, worauf es ankommt. Sie dürfen die verteidigenden Schiffe nicht zu nahe an die Frachter heranbringen. Das ist zwar der natürliche Instinkt, aber es ist auch das Schlimmste, was Sie tun können.«
»Wieso?«, fragte Marphissa, die sich hinsetzte und Bradamont nur ratlos anstarren konnte.
»Weil Sie den Anflug der Angreifer stören müssen, bevor die so nahe an die Frachter herangekommen sind, dass Sie sie nicht mehr aufhalten können. Das heißt, Sie müssen auf Abstand gehen und die Angreifer treffen, während die noch dabei sind, ihre Positionen für den Angriff auf die Frachter einzunehmen. Nach oben und unten, nach links und rechts, einfach in alle Richtungen. Feuern Sie auf die Angreifer, dann haben die keine Gelegenheit, den Frachtern nachzustellen.«
Sie konnte zwar verstehen, was Bradamont ihr da sagte, aber ihr Instinkt rebellierte gegen die Taktik. »Es tut mir leid, aber das ergibt doch keinen Sinn. Wenn ich mit meinen Kriegsschiffen auf Abstand zu den Frachtern gehe, dann sind die doch jedem Angriff schutzlos ausgeliefert. Ich habe nicht so viele Schiffe, um mit großem Abstand einen Schutzschild zu schaffen, der dicht genug ist, um keinen Gegner durchzulassen.«
»Das ist auch nicht nötig. Was Sie stattdessen aufbauen, ist eine aktive Verteidigung. Beobachten Sie die Bewegungen der Angreifer, bringen Sie Ihre eigenen Schiffe dorthin, und wenn sich die Gegner in Position bringen, um die Frachter anzugreifen, dann attackieren Sie.«
Marphissa dachte sorgfältig darüber nach und versuchte alle ablenkenden Gedanken und Ängste zu verdrängen, die sie in ihrer Konzentration stören wollten. »Woher weiß ich, wohin sich die Angreifer begeben werden, damit ich meine Schiffe in die richtige Richtung schicken kann?«
»Das ist das Leichteste von allem, Asima. Die Angreifer müssen immer dorthin gehen, wo sich Ihre Frachter befinden. Wenn es Ihnen gelingt, sie daran zu hindern, ist es völlig egal, wohin sie sonst noch in diesem System fliegen mögen.« Bradamont hockte sich vor Marphissa hin, damit sie auf Augenhöhe mit ihr war. »Sie können das. Sie sind gut. Sie hören auf die Bewegungen Ihrer Schiffe, Sie fühlen, auf welche Position sie gehen sollten und wie sie dorthinkommen. Das Gleiche machen Sie, wenn Sie die anderen Schiffe beobachten. Viele Schiffsführer kommen nie dahinter und sind auf automatische Systeme angewiesen, die alles für sie erledigen. Natürlich benötigen Sie noch mehr Erfahrung, aber ich habe gesehen, wie Sie mit diesem Schiff umgehen. Sie können das.«
»Bin ich so gut wie Black Jack?«, fragte Marphissa, stand auf und atmete tief durch.
»Niemand ist so gut wie Black Jack. Aber eines Tages werden Sie es vielleicht sein«, antwortete Bradamont, die sich ebenfalls aufgerichtet hatte.
»War nur ein Scherz«, murmelte sie.
»Meinerseits nicht.«
Marphissa stutzte und musterte Bradamonts Augen auf der Suche nach einem Hinweis auf Ironie oder Spott. »Ist das Ihr Ernst?«
»Ja, und jetzt kehren Sie auf die Brücke zurück und schaffen Sie Ihre Flotte sicher zum Hypernet-Portal, Kommodor.«
»Sagen Sie das, um … um mich zu motivieren?«
Nun war es Bradamont, die irritiert dreinschaute. »Ja … aber es ist trotzdem genau so gemeint, wie ich es gesagt habe.«
»Wie eigenartig. Das Syndikat motivierte einen immer mir Sprüchen wie: ›Erledigen Sie das anständig, sonst werden Sie erschossen.‹«
Bradamont musste lachen. »Jetzt wollen Sie mich aber auf den Arm nehmen, wie?«
»Nein, keineswegs.« Marphissa atmete noch einmal tief durch und tat so, als wäre ihr der konsternierte Gesichtsausdruck ihres Gegenübers nicht aufgefallen. »Bleiben Sie bei mir auf der Brücke. Wenn ich irgendetwas übersehe oder wenn es etwas gibt, das ich tun sollte, aber nicht tue, dann sagen Sie es mir.«
»Sie brauchen mich nicht«, erwiderte Bradamont, »aber ich werde da sein. Einzig und allein aus dem Grund, dass ich mit solchen Situationen mehr Erfahrung habe.«
Augenblicke später kehrten die beiden auf die Brücke zurück. Marphissa nahm ihren Platz ein und fühlte sich ein bisschen selbstsicherer, da sie nun eine Ahnung hatte, wie sie vorgehen sollte. Die Sorge und Unsicherheit der Wach-Spezialisten auf der Brücke war indes so intensiv, dass man sie fast hätte greifen können. Doch als ihnen die veränderte Einstellung der Kommodor zur Situation auffiel, löste sich die Stimmung auf der Brücke etwas.
Marphissa widmete sich konzentriert dem Display. Die Syndikatsflotte näherte sich leicht schräg von unten der Steuerbordseite der Schiffe von Midway. Die Frachter waren übereinander in zwei Reihen zu je drei Fahrzeugen angeordnet, wobei man eher von ungefähren Reihen sprechen musste, da selbst die automatischen Systeme nicht verhindern konnten, dass die immer noch mit Passagieren vollgestopften Schiffe wieder und wieder wie leicht abgelenkte Packesel die eigentliche Flugbahn verließen und seitlich abdrifteten. Die Kriegsschiffe nahmen Positionen zu beiden Seiten dieser Formation ein.
Zögerlich bewegte Marphissa ihre Hand über das Display und begann Kurse zu neuen Positionen weit vor den Frachtern einzuzeichnen. Je länger sie daran arbeitete, umso selbstsicherer wurde sie. Ja, genau.
Die Manticore und die Kraken auf eine Position an den direkten Abfangvektoren, auf denen sich die Syndikatsschiffe derzeit bewegten. Die vier Leichten Kreuzer ober- und unterhalb der Schweren Kreuzer, dabei ein klein wenig nach hinten versetzt. Die sechs Jäger rings um die Leichten Kreuzer, links und rechts, darüber und darunter sowie ein Stück weit hinter ihnen, damit sie jederzeit einschreiten und die Leichten Kreuzer oder die Schweren Kreuzer unterstützen konnten. Sie widerstand der Versuchung, Bradamont einen fragenden Blick zuzuwerfen und auf deren Zustimmung zu hoffen. Jeder hätte diese Geste bemerkt, mit der sie eigenhändig ihre Autorität untergraben hätte. Stattdessen tippte sie demonstrativ auf ihre Komm-Kontrolle. »An alle Einheiten der Heimkehrerflotte, hier spricht Kommodor Marphissa. Sie erhalten in diesem Augenblick Ihre Befehle für Ihre neuen Positionen. Führen Sie die Anweisungen sofort nach Erhalt aus.«