Die Schiffshülle des Syndikat-Jägers, der selbst ebenfalls bis zum Maximum beschleunigt hatte, war bereits einer solchen Belastung ausgesetzt, dass sie diesen feindlichen Beschuss nicht auch noch aushalten konnte. Der Jäger explodierte und verging in einem Regen aus großen und kleinen Trümmern, die zum Teil zur Seite geschleudert, zum Teil aber auch in Richtung des Vektors mitgezogen wurden, auf dem das Schiff eigentlich weitergeflogen wäre. Von einer Sekunde zur anderen hatte sich die Flugbahn eines einzelnen Kriegsschiffs in hunderte Flugbahnen von ebenso vielen Trümmerteilen verwandelt, die weiter in Richtung der Frachter rasten, als wollten sie immer noch eines dieser Schiffe zerstören.
Da aber der Jäger zu diesem Zeitpunkt noch auf einem Kurs unterwegs gewesen war, der ihn zwischen der oberen und der unteren Frachterkolonne hindurchgeführt hätte, drifteten auch seine Überreste größtenteils an den Zielen vorbei, ohne Schaden anzurichten.
Einige Trümmerstücke verirrten sich dann aber doch zum letzten Frachter, und sofort flammten neue Warnungen auf Marphissas Display auf, gleichzeitig gingen automatisch die Schadensmeldungen ein. Ein Bruch der Hülle war das Schlimmste, wovor sich Marphissa fürchtete, doch der wurde bei der ersten Welle der Schadensmeldungen glücklicherweise nicht angezeigt. Dann folgte eine Fülle weiterer Meldungen, die alle kleinere Schäden an der Hülle und den Ausfall einiger Systeme betrafen. Dann war die Trümmerwolke an den Frachtern vorbeigezogen.
Die Kite flog eine Parabel, um zu den anderen Schiffen zurückzukehren, doch dieses Manöver war nicht annähernd so belastend für die Hülle wie die vorangegangenen. »Ziel zerstört«, meldete die Kite gleich darauf fast ein wenig überheblich. »Wir kehren zu unserem zuvor zugewiesenen Ziel zurück.«
Bradamont klopfte Marphissa auf die Schulter. »Nur noch sechzehn Stunden, dann haben wir es geschafft.«
»Was denn? Nur noch sechzehn Stunden?«, gab sie zurück, als sie ihre Stimme wieder unter Kontrolle hatte. Dann nahm sie mit der Kite Kontakt auf. »Sehr gute Arbeit. Sorgen wir alle dafür, dass kein gegnerisches Schiff bis zu den Frachtern durchkommt.« Kopfschüttelnd betrachtete sie auf ihrem Display den Schadensstatus der Kite. »Bis wir sie in eine Werft schaffen können, wird sie nur begrenzt einsatzfähig sein. Und sie hat bei der Aktion sehr viel Brennstoff verbraucht. Nur noch sechzehn Stunden, sagten Sie?«
»Ja«, erwiderte Bradamont. »Geht es Ihnen gut?«
»Es geht mir bestens.« Gut, dass sie so überzeugend lügen konnte. Ihr Herz raste von dem Stress, der daher rührte, dass die Medikamente schneller als erwartet verbrannt worden waren. Sie sah nach dem Zustand ihres Aufputschers, zog ihn ab und klebte einen neuen auf.
Die nächsten sechs Stunden waren ein Albtraum aus wiederholten Vorstößen der Syndikatsschiffe und Paraden der Midway-Einheiten. Zu einem Schusswechsel kam es dabei nur zweimaclass="underline" als die Manticore Raketen auf den Leichten Kreuzer abfeuerte, der als ihr Ziel galt und der daraufhin die Flucht antrat, und als zwei Midway-Jäger einen Syndikat-Jäger in die Zange nahmen. Nachdem sie ein paar Treffer hatten landen können, wand sich der Gegner aus der Falle und entkam ihnen.
Nach einer kurzen Pause gingen die Attacken wie gehabt weiter: Vorstoß. Abfangen. Orientierung. Angriff. Abwehr. Neuformierung. Trotz der Medikamente spürte Marphissa den Druck, sich ständig auf die Bewegungen von etlichen Schiffen gleichzeitig konzentrieren zu müssen, woran sich auch in den anschließenden drei Stunden nichts änderte.
Dann verging eine ganze Stunde ohne einen einzigen Vorstoß. Die Kriegsschiffe des Syndikats lauerten zwar unablässig ihrer Beute auf, aber keines von ihnen versuchte eine Attacke.
»Was hat er vor?«, fragte Marphissa an Bradamont gewandt, wobei sie erschrak, als sie hörte, dass ihre Stimme beim Reden fast versagte.
Ein Wachspezialist kam zu Marphissa, Bradamont und Diaz und brachte jedem einen Verpflegungsriegel und Wasser. Marphissa nahm den Mann kaum wahr, da sie es nicht wagte, den Blick möglicherweise im entscheidenden Moment vom Display abzuwenden. Sie nickte nur als Dank und versuchte sich daran zu erinnern, wie viele Schichtwechsel es bei den Wachspezialisten eigentlich gegeben hatte, seit sie, Diaz und Bradamont damit begonnen hatten, die Flotte von Sub-CEO Qui nicht mehr aus den Augen zu lassen.
Marphissa riss die graue Verpackung des Riegels auf, auf der in fetter Blockschrift »Frisch! Lecker! Nahrhaft!« geschrieben stand, so als könnte die Schriftgröße diese Behauptungen Realität werden lassen, auch wenn die Wahrheit ganz anders aussah. Sie biss ab und kaute mechanisch, wobei ihr auffiel, dass es wohl dem Aufputscher zu verdanken war, dass sie den üblichen bitteren Nachgeschmack nicht wahrnahm — und auch nicht den eigentlichen schimmelig-modrigen Geschmack des Riegels, der erstaunlicherweise dem Nachgeschmack vorzuziehen war.
Bradamont schluckte ihre Bissen und erklärte mit rauer Stimme: »Wir haben uns immer gefragt, ob diese Syndik-Verpflegungsriegel wohl besser schmecken, wenn sie frischer sind, aber jetzt weiß ich, das ist nicht der Fall. Ich habe keine Ahnung, was Sub-CEO Qui bezwecken will, aber allmählich muss ihn die Verzweiflung packen. Sie sind keine fünf Stunden mehr vom Hypernet-Portal entfernt. Wenn er Sie aufhalten oder zumindest die Frachter zerstören will, bleibt ihm nur noch wenig Zeit.«
Marphissa nickte zustimmend. »Sofern wir das Hypernet-Portal benutzen können«, flüsterte sie und sprach aus, was beide fürchteten.
»Er gibt sich sehr viel Mühe, auf uns einzuschlagen«, erwiderte Bradamont im gleichen Tonfall. »Wenn Qui wüsste, dass wir nicht durch das Hypernet entkommen können, dann wäre ihm klar, dass ihm noch viel mehr Zeit bleibt, um uns zu zermürben.«
Es war schon seltsam. Marphissa stand unter Dauerbelastung durch den unendlich erscheinenden Kampf gegen die Syndikatsflotte, und die Aufputscher sorgten dafür, dass bis auf ihren klaren Verstand jeder andere Teil ihres Körpers unter dem Einfluss von Medikamenten stand. Und trotzdem empfand sie eine gewisse Freude, wenn sie Bradamont von »wir« und »uns« reden hörte. »Ich glaube«, antwortete sie, »dass er versucht, uns in Sicherheit zu wiegen. Er weiß, wie erschöpft jeder auf unseren Schiffen sein muss, und er nimmt vermutlich an, wenn er uns ein oder zwei Stunden lang völlig in Ruhe lässt, werden wir unaufmerksam.«
»Oder er lässt seine Leute ausruhen«, gab Bradamont zu bedenken.
Marphissa hätte sich fast an einem Bissen von ihrem Verpflegungsriegel verschluckt, da sie lachen musste. »Er ist eine Schlange«, machte sie der Allianz-Offizierin klar, nachdem sie unter Schmerzen geschluckt hatte. »Sub-CEO Qui ist eine Schlange, er gönnt seinen Leuten keine Ruhepausen.«
Kapitan Diaz, der zusammengesunken in seinem Sessel saß, nickte zustimmend. »Ausruhen darf man sich, wenn ein Befehl ausgeführt ist«, ergänzte er. »Es sei denn, auf einen wartet schon der nächste Befehl.«
»Keine Arbeitspausen, bis die Moral sich gebessert hat«, fügte Marphissa hinzu. »Nein, Honore, ich garantiere Ihnen, Sub-CEO Qui gönnt seiner Crew keine Ruhepause. Bislang hat die Crew versagt, aber er als ihr Führer natürlich nicht«, redete sie in sarkastischem Tonfall weiter. »Die Crew hat versagt. So läuft das beim Syndikat. Er treibt sie an, lässt sie härter arbeiten und erzählt ihnen, wenn sie keinen Erfolg haben, wird man sie für den ausbleibenden Erfolg mit aller Härte bestrafen.«
»Aber ihn wird man auch bestrafen«, sagte Diaz. »Vor allem, wenn das Syndikat erfährt, wer wir wirklich sind und dass wir die Überlebenden der Reserveflotte an Bord unserer Frachter haben.«
»Genau«, pflichtete Marphissa ihm bei. »Denn den CEO kann keine Schuld treffen, der Sub-CEO Qui auf diese Mission geschickt hat. Folglich hat Qui einen Fehler gemacht.«