»Wenn er flieht«, warf Togo ohne eine Gefühlsregung ein, »dann wird er sich vor seinen Vorgesetzen auf Prime aber rechtfertigen müssen, warum er es nicht geschafft hat, dieses Sternensystem vor den Enigmas zu schützen.«
»Ganz sicher denkt er sich in diesem Moment eine gute Ausrede aus«, sagte Iceni voller Verachtung. »Prime wird sich nicht damit zufriedengeben, dass er dem Gegner hoffnungslos unterlegen war. Erst recht nicht, wenn man bedenkt, dass er behaupten wird, alles nur Erdenkliche versucht zu haben. Man wird nicht übersehen können, dass er beim Kampf gegen uns und die Enigmas nicht einen einzigen Kratzer abgekriegt hat. Aber seine Ausrede muss ja nicht der Wahrheit entsprechen, sie muss nur einfach gut klingen. Nun, ich begreife Boyens’ Verhalten, aber ich weiß nicht, worauf die Enigmas warten.«
Wieder warf sie dem Display einen giftigen Blick zu, als könnte sie es einschüchtern und ihm so eine Antwort entlocken, die Togo ihr nicht liefern konnte. Die Enigmas hatten sich vom Sprungpunkt nach Pele seit ihrer Ankunft nur dreißig Lichtminuten ins System hineinbewegt. Der Angriff der Aliens war dort abgebremst worden, sodass alle zweihundertzweiundzwanzig Schiffe sich in Relation zum Sprungpunkt kein Stück mehr von der Stelle gerührt hatten.
»Welchen Grund könnte es für sie geben, einfach da herumzuhocken und nichts zu tun?«, wollte Iceni wissen. »Wir sind ihnen ausgeliefert, und das müssen sie auch wissen.«
Sie sprang auf und verließ das Büro, als wollte sie verlangen, dass irgendjemand im Kommandozentrum eine Erklärung für das Unerklärliche lieferte.
Als Erstes sah sie General Drakon, der in einer kleinen Gruppe bestehend aus ihm selbst, Colonel Malin und Colonel Morgan dastand und eine gedämpfte Unterhaltung führte. Das darf ich nicht vergessen, sagte sie sich und überspielte hastig ihre erste Reaktion auf den Anblick von Morgan. Wenn wir das hier überleben, werde ich mich ausführlich mit Drakon unterhalten, warum dieses mordlüsterne Miststück eigentlich immer noch für ihn arbeitet. Loyalität gegenüber Untergebenen ist ja schön und gut, und Togo hat mir genug darüber berichtet, wie fähig und todbringend Morgan ist. Mir ist schon klar, wie wichtig sie für Drakon ist. Aber meiner Meinung nach bewegt sie sich haarscharf an der Grenze zur Psychopathin. Mir ist egal, ob sie so geworden ist, weil das Syndikat irgendwas mit ihr gemacht hat, um sie auf diese Mission ins Enigma-Gebiet zu schicken. Das ist weder meine Schuld noch mein Problem.
Und sie hat mit diesem Idioten Drakon geschlafen, nur weil er mehr getrunken hatte, als er vertragen kann. Ich bin davon überzeugt, dass sie ganz genau gewusst hat, was sie da tat. Und welchen Sinn sollte das Ganze haben? Durch dieses Erlebnis war Drakon nur in seiner Überzeugung bestärkt worden, so etwas bloß nie wieder zu machen. Was also hatte Morgan erreichen wollen?
Und warum stört mich diese Erkenntnis so sehr, dass Drakon mit ihr geschlafen hat? Weil es beweist, dass Drakon tief in seinem Inneren auch nur ein Idiot ist? Oder weil …?
Nein, ich weiß es. Wenn man Geschäft mit Vergnügen verbindet, ist die Katastrophe vorprogrammiert.
Colonel Malin ließ Iceni nach wie vor keine dezente Warnung zukommen, dass ihr Gefahr drohte. Auch hatte er den ganzen letzten Tag über von keiner der komplexeren Methoden Gebrauch gemacht, mit denen er ihr sonst Informationen zukommen ließ. Hatte er ein doppeltes Spiel getrieben? Hatte er mit Drakons Wissen Informationen weitergegeben, damit er sie in einer Situation wie dieser im Ungewissen lassen konnte und sie sich in Selbstgefälligkeit ergehen würde? Oder hatte Malin ganz eigene Prioritäten? Was für ein Spiel treiben Sie, Colonel Malin?
Sie wusste nie, ob ihre Bedenken berechtigt oder nur ein Ergebnis des Systems waren, in dem sie aufgewachsen und später befördert worden war. Paranoia war nicht fehl am Platz, wenn allzu viele Leute einem fast ständig nach dem Leben oder zumindest dem Posten trachteten. Aber Paranoia lähmte einen auch, was nach Icenis Einschätzung der andere und durchaus gewollte Zweck war. Ein Umfeld, das auf gegenseitigem Misstrauen basierte, hatte erfolgreich verhindern können, dass sich irgendwelche Gruppen bildeten, die sich geschlossen gegen die Führung durch das Syndikat auflehnten.
Drakon sah zu Iceni, als sie sich der Gruppe näherte. Er lächelte sie an, wurde jedoch sofort wieder ernst.
Konnte der Mann sie tatsächlich gut leiden? Das war ein faszinierender Gedanke.
»Die Enigmas rühren sich nicht von der Stelle«, sagte sie ohne Vorrede und ignorierte die Anwesenheit von Colonel Malin und Colonel Morgan, ganz so, wie Drakon keine Notiz von Togo nahm, der links hinter ihr stand. Togo hatte seine Position ein wenig geändert, als sie beide stehen geblieben waren, weil er sicher sein wollte, dass er Morgan ständig im Blick hatte für den Fall, dass sie irgendeine verdächtige Bewegung vollführte.
Drakon reagierte mit einem Nicken auf Icenis Feststellung und ließ die gleiche Unzufriedenheit erkennen, die ihr selbst auch zu schaffen machte. »Ist mir schon aufgefallen. Was glauben Sie, wofür das gut sein soll?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Ich kann nur eine Einschätzung liefern, aber die basiert darauf, was man in einer solchen Situation von Menschen erwarten würde«, sagte Drakon und zeigte verärgert Richtung Hauptdisplay, auf dem die weit entfernten Enigma-Schiffe deutlich zu sehen waren. »Wäre das eine menschliche Streitmacht, hätte ich nur eine Erklärung parat, nämlich die, dass sie den Befehl haben, auf irgendjemanden oder irgendetwas zu warten.«
»Zu warten? Auf was denn?«
»Ich weiß nicht. Aber wenn die Typen da Menschen wären, würde ich vermuten, ihre Anweisungen lauten, nicht anzugreifen, bis ein bestimmter Zeitpunkt eintritt oder bis ein CEO eingetroffen ist, der den Sieg für sich verbuchen will. Oder sie warten auf Verstärkung, die sie eigentlich nicht brauchen.«
Iceni zog die Stirn in Falten und musterte das Display. »Diese Gründe würden einen Sinn ergeben — wenn die Enigmas menschlich wären.«
»Dass sie das nicht sind, weiß ich sehr wohl«, konterte Drakon. »Aber vielleicht sind sie uns ja in dieser Hinsicht ähnlich.«
»Es wäre schön zu wissen, dass wir nicht die einzige intelligente Spezies sind, die zu so einem sinnlosen Verhalten fähig ist. Aber selbst wenn sie einfach nur dumm sind, können wir weiterhin nichts unternehmen«, sagte Iceni.
»Wir könnten angreifen«, erwiderte Drakon und grinste dabei ironisch.
»Wenn sie darauf warten, sollten sie aber besser sehr viel Geduld haben. Kommodor Marphissa ist immer noch auf dem Weg zum Gasriesen.«
»Wohin wird sie sich begeben, wenn sie die beiden Kreuzer von da abgeholt hat?«
»Ich habe ihr befohlen, die weitere Entwicklung abzuwarten und darauf zu achten, dass irgendwer anders etwas unternimmt, damit wir wissen, auf wen wir reagieren müssen.«
»Guter Gedanke. Was geschieht mit dem Schlachtschiff?«
Diesmal musste Iceni mit den Schultern zucken. »Das bleibt, wo es ist. Bis auf weiteres jedenfalls.«
»Warum schaffen wir es nicht aus dem Sternensystem? Es hat für uns keinen militärischen Nutzen.«
Sie seufzte müde. Wie lange war es her, seit sie das letzte Mal geschlafen hatte? »Dieses Schlachtschiff ist für jeden, der es sieht, die stärkste Verteidigungskraft in diesem Sternensystem. Selbst für diejenigen, die über Scanner verfügen, von denen sie erfahren können, dass die Waffen nicht funktionstüchtig sind, wirkt es trotz allem wie ein gewaltiges Kriegsschiff. Was wird passieren, wenn alle zusehen, wie wir es von hier wegschaffen?«
Colonel Morgan warf ihr einen anerkennenden Blick zu, als sei sie überrascht, dass Iceni noch wach genug war, um sich solche Gedanken über Konsequenzen zu machen. Diese hochtrabende Miene war ein Grund mehr, Morgan umbringen zu lassen, auch wenn sie mit Drakon vereinbart hatte, Attentate nur im beiderseitigen Einvernehmen über die Zielperson auszuführen. Aber ein Anschlag auf eine Assistentin, die Drakon so nahestand, würde zu massiven Problemen führen, selbst wenn das Attentat erfolgreich ausgeführt würde. Und nach allem, was sie bislang über Morgan gehört hatte, würde die sich nicht so leicht eliminieren lassen, selbst dann nicht, wenn Iceni Togo auf sie ansetzte.