Beide hatten recht. Malin und Morgan hatten die Logik und die Vernunft auf ihrer Seite. Aber Drakon musste nur einmal zu Iceni sehen, die mit versteinerten Gesichtszügen das Display betrachtete. Sie spürte seine Blicke und drehte sich zu ihm um. Sie sagte kein Wort, doch Drakon war sich sicher, dass sie ihm soeben wortlos ihr Einverständnis gegeben hatte. Gehen Sie. Los.
Stattdessen aber trat er zu ihr und ließ Malin und Morgan stehen. »Madam Präsidentin«, sagte er förmlich. »Sie müssen sich zu einem Shuttle begeben. Ich werde meinen Soldaten befehlen, rund um den Landeplatz einen Kordon zu bilden. Das sollte genügen, um die Menschenmenge zurückzuhalten, bis die Shuttles landen können.«
Sie sah ihm tief in die Augen. »Und dann lassen wir diese Soldaten hier zurück? Sie würden zu unserem Schutz dastehen, während wir uns in Sicherheit bringen und sie dem sicheren Tod überlassen?«
»Soldaten tun so etwas, Madam Präsidentin. Manchmal müssen sie das. Auf jeden Fall werden Sie den Planeten verlassen können.«
»Ich werde den Planeten verlassen können? Und was ist mit Ihnen, General?«
Ehe er darauf antworten konnte, rief der Supervisor des Kommandozentrums: »Wir erhalten eine Nachricht von den Allianz-Streitkräften. Sie ist an Präsidentin Iceni und General Drakon gerichtet.«
»Öffnen Sie uns ein privates Komm-Fenster«, wies sie den Mann an.
Augenblicke später entstand vor ihnen ein virtuelles Fenster, das für alle anderen nicht sichtbar war. Drakon hatte schon Bilder von Black Jack Geary gesehen. Der große Held der Allianz sah nicht wie ein Held aus, sondern wie ein Mann, der seine Arbeit erledigte und der sich selbst nicht für einen Helden hielt. Drakon hatte das vom ersten Moment an gefallen. Im Augenblick sah Black Jack gar nicht erfreut darüber aus, dass er die Enigma-Armada zum größten Teil ausgelöscht hatte. Entsprechend düster war sein Tonfall, als er sagte: »Hier spricht Admiral Geary. Wir haben unser Bestes gegeben, die Enigma-Streitmacht unschädlich zu machen. Trotzdem sind uns Schiffe entkommen, von denen einige begonnen haben, Ihre bewohnte Welt zu bombardieren. Wir werden weiter die Enigma-Schiffe verfolgen, aber wir können nichts gegen die Projektile unternehmen, die auf Ihre Welt zusteuern. Ich muss Sie auffordern, alle erdenklichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Sicherheit Ihres Volks zu gewährleisten. Auf die Ehre unserer Vorfahren. Geary, Ende.«
Morgan beendete spöttisch das Schweigen, das nach dem Ende der Nachricht eingesetzt hatte: »Konnte er uns irgendwas erzählen, was wir nicht längst wissen? General, wir müssen los.«
»Er hat alles getan, was er konnte«, erwiderte Iceni und warf Morgan dabei einen zornigen Blick zu.
»Richtig«, stimmte Drakon ihr zu. »Black Jack trifft keine Schuld.« Aber davon abgesehen hatte Morgan recht. Es wurde Zeit aufzubrechen. Doch er rührte sich nicht von der Stelle. Es schien, als hätten seine Füße Wurzeln geschlagen. Auch Iceni stand unverändert neben ihm. Vor seinem geistigen Auge sah er seine Soldaten, all die Männer und Frauen, die ihm über Jahre hinweg auf zahlreichen Welten in den Kampf gefolgt waren. Die auf jeder dieser Welten Kameraden verloren hatten, während sie seine Befehle ausführten. Und er sah sie, wie sie dastanden, entschlossen die in Panik geratene Menge zurückzuhalten, damit ihr Kommandeur in ein Shuttle einsteigen konnte, das ihn in Sicherheit brachte, während er sie alle dem sicheren Tod überließ. Hinter ihnen sah er die weißen Strände dieser Welt und die sanften Anhöhen der Inseln. Er erinnerte sich an die sanfte Brise, die vom Wasser an Land wehte, und an die Sonnenuntergänge, deren spezieller Farbton im Lauf weniger Jahre zu einem sehr vertrauten Anblick geworden war. Diese Welt an sich zu verlassen, das war eine Sache. Doch eine ganz andere Sache war es, die Soldaten und die Welt in der Gewissheit zu verlassen, dass schon bald nichts davon mehr existieren würde.
Auch nach all den Jahren, in denen er in der Hierarchie des Syndikats Dienstgrad für Dienstgrad aufgestiegen war, nach allem, was er dafür hatte leisten müssen, gab es doch immer noch Dinge, die General Artur Drakon unmöglich tun konnte.
»General«, sagte Malin wieder zu ihm, auch wenn in seinen Tonfall bereits die Erkenntnis mitzuschwingen schien, dass jedes weitere Drängen sinnlos war.
Drakon schüttelte den Kopf. »Begleiten Sie die Präsidentin, wenn sie den Planeten verlässt, Colonel Malin. Sie wird Ihre Ratschläge und Ihre Unterstützung gebrauchen können.«
Malin senkte kurz den Blick, dann erklärte er: »Ich würde lieber bleiben, General.«
»Das ist ein Befehl, Bran.«
»Ich glaube nicht, dass unter den gegebenen Umständen eine disziplinarische Bestrafung wegen Befehlsverweigerung noch viel bewirken würde«, betonte Malin. »Auch wenn wir es im Hauptquartier vielleicht überleben würden.«
»Das ist nicht sehr wahrscheinlich«, brummte Drakon. »Also gut, dann verdammt noch mal eben so. Beschaffen Sie eine Eskorte, die Präsidentin Iceni zum Landeplatz bringt. Aber sorgen Sie für eine ordentliche Eskorte. Es wird in Kürze eine Massenpanik geben.«
Morgan stand ein Stück von ihm entfernt, ihre Haltung verriet eine für sie äußerst untypische Unschlüssigkeit. Sie schien einfach nicht zu wissen, was sie tun sollte, stattdessen starrte sie Drakon an.
»Gehen Sie, Colonel Morgan«, sagte er zu ihr, dann drehte er sich zu Iceni um, die sich noch immer nicht rührte, sondern mit geballten Fäusten dastand und ihren Blick durch das Kommandozentrum schweifen ließ. »Sie müssen die Eskorte der Präsidentin befehligen und dafür sorgen, dass sie an Bord des Shuttles gebracht wird. Helfen Sie ihr, an Bord eines Frachters im Orbit zu gelangen, und dann bleiben Sie bei ihr und passen auf sie auf, egal wohin sie auch geht. Schaffen Sie sie hier raus, bringen Sie sie in Sicherheit. Begleiten Sie sie, wohin sie will, und damit kommen Sie auch sicher hier raus.«
»Nein.« Morgan schüttelte den Kopf wie jemand, der soeben aus einer tiefen Trance erwacht war. »Sie …«
»M-Madam Präsidentin?«, rief der Supervisor verdutzt. »Da … da tut sich was.«
»Was tut sich wo?«, fuhr Iceni den Mann an und war sofort wieder ganz auf die Situation konzentriert.
»Diese sechs Schiffe, Madam Präsidentin. Die … die tun etwas.«
»Was tun sie denn?«, gab sie noch energischer als zuvor zurück. Aber als sie dann wieder das Display betrachtete, wich ihre Verärgerung völligem Unverständnis. »Was tun die da?«, fragte sie völlig ratlos.
Die sechs rätselhaften Schiffe, die fast schon in Vergessenheit geraten waren, hatten sich kontinuierlich dem Stern genähert. Jetzt kehrten sie auf die Ebene des Sternensystems zurück und demonstrierten dabei eine beeindruckende Beschleunigung. Ihre Vektoren führten sie zu …
»Das Bombardement«, flüsterte der Supervisor verblüfft. »Die wollen das Bombardement abfangen.«
»Wieso?« Icenis Frage war an das gesamte Kommandozentrum gerichtet. »Welchen Sinn soll das haben? Wozu sind die in der Lage?«
Der Supervisor, der in seiner Position derjenige war, der als Erster eine Antwort geben sollte, konnte nur stammeln: »Ich, ich habe … keine Ahnung, Madam Präsidentin.«
Iceni drehte sich abrupt zu Drakon um. »Mobile Streitkräfte können kein Bombardement stoppen, weil die Feuerkontrollsysteme von dieser Problemstellung überfordert sind. Was haben diese Schiffe vor?«
»Das da sind keine von unseren Schiffen«, antwortete stattdessen Colonel Malin. »Es sind auch keine Allianz-Schiffe. Es sind nicht mal menschliche Schiffe. Vielleicht können die etwas, was unsere nicht schaffen.«
Alle Augen waren auf das Display gerichtet, als die sechs Schiffe auf die Projektile zurasten und sich direkt hinter ihnen in Position brachten. Das Manöver, das sie dabei flogen, war so gewagt, dass Iceni und einigen anderen vor Bewunderung der Atem stockte. Die Schiffe eröffneten das Feuer und landeten irgendwie ihre Treffer. Die Schüsse vermochten zwar die Projektile aus massivem Metall nicht zu zerstören, aber es gelang ihnen, sie auf andere Flugbahnen zu lenken, die sie mit großem Abstand am Planeten vorbeifliegen lassen würden.