»Nein«, sagte Drakon und sah wieder auf das Lagedisplay, auf dem die Position der feindlichen Streitmacht dargestellt wurde.
Morgan seufzte missbilligend. »Also gut, wir können Malin mitnehmen.«
Sie hielt das wohl für ein gewaltiges Entgegenkommen ihrerseits, was durchaus nachvollziehbar war, da die beiden einander aus tiefstem Herzen hassten. Doch Drakon schüttelte den Kopf. »Darum geht es nicht.« Wie sollte er seinen Standpunkt erklären, damit Morgan es auch akzeptierte? Wo er doch nicht einmal selbst verstand, warum er sich weigerte zu tun, was jedem CEO als Verhalten während einer Krise eingeimpft worden war? »Ich weiß, die Regel in einer solchen Situation besagt, dass man den Wölfen so viele Untergebene wie nötig zum Fraß vorwirft. Aber ich lasse niemanden im Stich, und das wissen Sie auch. Deshalb wurde ich ja schließlich nach Midway strafversetzt.« Und deshalb werde ich hier vermutlich auch sterben.
Morgan beugte sich ein wenig vor, ihr Gesicht berührte nun seines, ihre Augen loderten. »Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Sie und ich das hier überleben. Wir können uns anderswo etablieren, und wenn wir irgendwann genügend Feuerkraft zur Verfügung haben, können wir hierher zurückkehren, um das Sternensystem wieder einzunehmen. Und dann rächen wir …«
»Ich bin nicht daran interessiert, Leute zu rächen, die ich ihrem Schicksal überlassen habe.«
»Sie haben es nicht zum CEO geschafft, weil Rücksichtnahme auf andere Leute Ihre oberste Priorität war, General. Das wissen Sie so gut wie ich.«
Beharrlich schüttelte Drakon den Kopf. »Ich weiß auch, wenn ich dieses System vor Präsidentin Iceni verlasse, dann sieht es so aus, als wäre ich schwächer als sie. Ich würde ihr zudem die Kontrolle über diesen Planeten und dieses Sternensystem überlassen.« Das war die Art von Logik, die sogar jemand wie Morgan akzeptieren konnte.
Sie hielt inne und blickte zu Iceni hinüber. »Vielleicht gehen Sie ja nicht als Erster weg. Vielleicht ist sie ja schon mit einem Fuß auf dem Weg nach draußen.«
Drakon folgte ihrem Blick und sah Iceni, die in eine Unterhaltung mit ihrem persönlichen Assistenten/Leibwächter/Attentäter Mehmet Togo vertieft war. Beide hatten sich ein paar Schritte entfernt. Drakon benötigte keinen Scanner, ihm war auch so klar, dass deren Unterhaltung ebenfalls von persönlichen Störsendern geschützt wurde.
»Iceni plant ihre eigene Flucht«, flüsterte Morgan. »Sehen Sie nur. Sie wird sich unter irgendeinem fadenscheinigen Vorwand zurückziehen und dann zu ihrem Shuttle eilen. Ich habe Scharfschützen postiert. Wir können sie aufhalten, bevor sie die Startrampe erreichen kann.«
Drakon zog die Brauen zusammen, betrachtete dabei aber weiter das Display anstelle von Iceni. »Nein.«
Seine energische Reaktion brachte ihm einen forschenden Blick von Morgan ein. »Wieso nicht? Gibt es irgendeinen … persönlichen Grund?«
»Natürlich nicht«, fuhr Drakon sie an. Er hatte Iceni in der letzten Zeit besser kennengelernt. Er hatte eine Menge über die vormalige CEO und jetzige Präsidentin herausgefunden und dabei festgestellt, dass er ihr (auf vermutlich völlig irrationaler Basis) mehr und mehr vertraute und er die Treffen mit ihr zunehmend genoss. Aber nichts davon hatte in diesem Moment irgendwelchen Einfluss auf seine Einstellung gegenüber Morgans Absichten. Davon war er fest überzeugt. »Wir brauchen Iceni. Wenn wir das hier irgendwie überleben sollten, benötigen wir ihre Kontrolle über die Kriegsschiffe.«
»Wenn die Enigmas hier fertig sind, wird es keine Kriegsschiffe mehr geben«, machte Morgan ihm klar. »Ausgenommen natürlich die gegnerischen.«
»Ziehen Sie die Scharfschützen sofort zurück. Ich will nicht, dass es zu irgendwelchen Unfällen kommt.«
»Aber Sie brauchen …«
»Ich brauche jemanden, der meine Befehle dann ausführt, wenn ich sie erteile, Colonel Morgan!«
Das war möglicherweise mehr gewesen, als von den persönlichen Störsendern überdeckt werden konnte. Niemand sah in seine und Morgans Richtung, weil alle hier im Kommandozentrum wussten, dass es grundsätzlich besser war, den Anschein zu erwecken, nichts von den Meinungsverschiedenheiten der Vorgesetzten mitzukriegen. Allerdings spürte er, wie sich diejenigen in ihrer unmittelbaren Nähe versteiften, als koste es sie große Mühe, den natürlichen Impuls zu unterdrücken, sich in Richtung der lauter werdenden Stimmen umzudrehen.
Colonel Malin, der normalerweise ein besonders gutes Gefühl für Drakons Launen hatte, schien völlig in seine Arbeit vertieft zu sein. So wenig er Morgan auch leiden konnte, wusste er doch, dass es besser war, wenn Drakon nicht mitbekam, wie er sich darüber freute, dass Morgan zusammengestaucht wurde.
Drakon atmete einmal tief durch, ehe er weiterredete. Er mied es, in Morgans vor Wut glühende Augen zu sehen, die ihn aus einem versteinerten Gesicht anstarrten. »Ich habe meine Gründe, so wie ich immer meine Gründe habe, wenn ich jemandem gegenüber ein Risiko eingehe.«
Er wusste, dass sie die Anspielung verstehen würde. Morgan selbst war nach einer verheerenden Mission ins Enigma-Gebiet als nur unter Vorbehalt diensttauglich beurteilt worden, weshalb jeder befehlshabende Offizier es abgelehnt hatte, sie seinem Kommando zu unterstellen, bis Drakon gekommen war und ihr eine Chance gegeben hatte.
Der Zorn ließ ihre Augen flackern, die Mundwinkel zuckten, dann machte sie einen abrupten Wechsel durch und strahlte gleich wieder leichte Belustigung aus. »Manchmal funktioniert das. Aber ich bin ja auch einmalig, General.«
Zum Glück, dachte Drakon. Könnte das Universum mehr als eine Roh Morgan aushalten? »Ziehen Sie die Scharfschützen zurück und arbeiten Sie mit Rogero, Kai und Gaiene daran, die Streitkräfte so zu verteilen, dass sie uns gegen eine Landung verteidigen können. Wir haben noch genug Zeit, um die Leute zu ihren Positionen zu schaffen. Dort sollen die sich eingraben. Vielleicht bleiben die Enigmas im Orbit und bombardieren uns auf Teufel komm raus. Aber wenn sie mit dem Planeten noch irgendetwas anfangen wollen, dann werden sie schon runterkommen und ihn uns abnehmen müssen. Ich werde sie dafür so teuer bezahlen lassen, dass sie noch lange an diesen Tag denken werden.«
Morgan grinste anzüglich und tippte auf die Handfeuerwaffe, die sie in einem Halfter an der Hüfte trug. »Wenn die herkommen, kann ich ihnen wenigstens in die Augen sehen, während ich sie abschieße.«
»Und während Sie von denen abgeschossen werden«, warf Malin ein.
»Das wurde schon versucht«, konterte sie in neckendem Tonfall. »Ohne Erfolg.«
Malin zeigte keine Reaktion auf die Anspielung auf einen Zwischenfall, der sich an Bord einer Orbitalplattform abgespielt hatte. Dabei hatte ein Schuss aus seiner Waffe sie nur knapp verfehlt, ehe ein Gegner getroffen wurde. Dieser Zwischenfall hatte für Drakon sehr nach einem versuchten Mord an Morgan ausgesehen, den dieser im Schutz eines Feuergefechts hatte begehen wollen. Aber Malin hatte darauf beharrt, dass sein Schuss nicht ihr gegolten hatte und dass er damit zudem einen gefährlichen Widersacher ausgeschaltet hatte.
Malin drehte sich kurz zu Morgan um, seine Miene verriet keine Regung. »Dann werden Sie ja vielleicht doch noch in einem von den Enigmas kontrollierten Sternensystem Ihr Leben verlieren.«
»Es klingt so, als würde Ihnen diese Vorstellung gefallen.«
»Das bilden Sie sich nur ein«, gab Malin zurück und wandte sich wieder seiner Konsole zu.
Drakon widmete sich mit finsterer Miene dem Display, während Morgan loszog, um die erteilten Befehle auszuführen — und zwar hoffentlich alle. »Colonel Malin, sorgen Sie dafür, dass in der Nähe dieser Einrichtung niemand von unseren Leuten in irgendeiner Art von Alarmbereitschaft ist.«