»Sehr wenig. Dort gibt es eine Nachrichtensperre. Ich versuche herauszufinden, was sich da abspielt, dass Außenstehende nichts erfahren sollen.«
»Gut. Im Gegensatz zu Ulindi sind wir vom Transitverkehr abhängig, der die Sprungpunkte und das Hypernet-Portal benutzt. Wir könnten gar nicht den gesamten Schiffsverkehr unterbinden, nur damit niemand davon erfährt, was bei uns los ist.« Sie strich sich durchs Haar. »Unsere bevorzugten Kandidaten scheinen auf dem besten Weg zu sein, die hiesigen Wahlen zu gewinnen. Das wird für Stabilität sorgen.«
»Wir sollten aber nicht jeden verfügbaren Posten gewinnen«, hielt Drakon dagegen. »Das würde nämlich so aussehen, als hätten wir zur Syndikatsmethode gegriffen und die Wahl zu unseren Gunsten manipuliert.«
»Wir werden nicht jeden Posten gewinnen. Nur so viele, dass es reicht.« Iceni lachte auf. »Und wir werden auch gar nichts manipulieren müssen. So wie es aussieht, genießen wir und unsere Kandidaten nach unserem heroischen Auftreten während des Enigma-Angriffs sehr hohes Ansehen. Kommt Ihnen das nicht seltsam vor?«
»Was meinen Sie?«
»Wir haben das Sagen, weil die Leute das so wollen, und nicht weil wir die Macht haben, sie das tun zu lassen, was wir uns wünschen. Ist das nicht seltsam?«
»Und wenn die Leute ihre Meinung ändern?«
»Wir haben ja immer noch die Macht; falls wir sie wieder mal brauchen sollten«, machte Iceni ihm klar.
Kommodor Asima Marphissa saß auf der Brücke ihres Flaggschiffs, des Schweren Kreuzers Manticore, und war sich nur zu deutlich darüber im Klaren, dass von allen derzeitig im Midway-System agierenden Gruppierungen, die über mobile Streitkräfte verfügten, ihre eigene die kleinste und schwächste war.
Die Hälfte ihrer Schweren Kreuzer war beim Gasriesen zurückgeblieben, um die dortigen Dockanlagen zu beschützen, sodass sie sich mit nur zwei Schweren Kreuzern, fünf Leichten Kreuzern und zwölf Jägern der Syndikat-Flotte unter dem Kommando von CEO Boyens stellen sollte. Ihre kleine Gruppe Kriegsschiffe hätte sich in der gewaltigen Allianz-Flotte völlig verloren, aber allein war sie den Streitkräften des Syndikats hoffnungslos unterlegen. Schließlich setzte die sich zusammen aus einem Schlachtschiff, sechs Schweren Kreuzern, vier Leichten Kreuzern und zehn Jägern. Natürlich war sie auf ihre kleine Flotte unglaublich stolz, doch sie machte sich keine Illusionen hinsichtlich der Feuerkraft.
Selbstverständlich habe ich auch ein Schlachtschiff. Doch die Midway kann zwar fliegen, aber nicht kämpfen. Und genau genommen kann sie derzeit nicht einmal fliegen, weil Kapitan-Leytenant Kontos immer noch damit beschäftigt ist, sämtliche Verstärkungen von den Klammern zu demontieren, mit denen das Schiff an der Einrichtung festgehalten wird. Nur jemand wie Kontos konnte die Idee in die Tat umsetzen, ein Schlachtschiff zu benutzen, um eine Orbitaleinrichtung aus der Gefahrenzone eines Enigma-Angriffs zu bewegen.
Ich frage mich, wie sehr Kontos es auf meinen Posten abgesehen hat. Können Präsidentin Iceni und ich jemandem, der so ehrgeizig und genial ist, tatsächlich das Schlachtschiff überlassen, sobald es fertiggestellt ist?
»Kommodor, wir erhalten eine Nachricht von der Syndikat-Flotte«, meldete der Senior-Komm-Spezialist, der sie damit aus ihren düsteren Gedanken holte.
»CEO Boyens ist tatsächlich endlich so gnädig, mit mir zu reden?«, fragte Marphissa. Sie hatte ihre Flotte so nahe an das Hypernet-Portal herangebracht, dass sie keine fünf Lichtminuten mehr von der Syndikat-Flotte entfernt war. Es war der Versuch, CEO Boyens zu ärgern und ihn zu einem Angriff zu provozieren, in den Black Jack und seine Flotte dann hoffentlich eingreifen würden.
»Die Nachricht ist nicht an Sie persönlich gerichtet, Kommodor, sondern an unsere gesamte Flotte.«
»Dann lassen Sie mal sehen.« Sie wusste, dass Arbeiter und Supervisoren auf jedem Schiff der Flotte diese Mitteilung im gleichen Augenblick zu sehen bekamen, ohne Rücksicht auf Regeln und Vorschriften. Da war es nur sinnvoll, wenn sie selbst auch herausfand, was Boyens ihnen erzählte.
CEO Boyens hatte das standardmäßige CEO-Lächeln für Unterhaltungen mit Untergebenen aufgesetzt (das sich natürlich vom standardmäßigen CEO-Lächeln für Unterhaltungen mit Gleichgestellten oder Vorgesetzten unterschied). Marphissa hatte diesen rundweg verlogenen und herablassenden Gesichtsausdruck oft genug zu sehen bekommen, sodass sie die Art der Mimik auf Anhieb entschlüsseln konnte. Sie war genau auf ihr Publikum zugeschnitten, und ihm fehlte jegliche Ehrlichkeit.
»Bürger«, begann Boyens im Tonfall eines von seinen Kindern enttäuschten Vaters. »Sie wurden vom rechten Weg abgebracht und in die Irre geführt. Zweifellos hat man Sie gezwungen, Handlungen zu begehen, die Sie nicht gewollt haben. Jetzt sehen Sie sich mit ernsten Bedrohungen konfrontiert und haben niemanden mehr, der Sie und Ihre Familien beschützt. Abgesehen natürlich von diesen Diktatoren, die sich selbst Präsidentin und General nennen. Aber Sie müssen sich nicht länger deren Willen beugen.«
Boyens’ Standardlächeln wurde durch jene standardmäßige CEO-Miene ersetzt, die völlige Ehrlichkeit heuchelte. »Ich bin dazu ermächtigt worden, Ihnen allen Immunität zu garantieren für jegliches Handeln, das gegen Gesetze der Syndikatwelten verstoßen haben mag. Das gilt auch für vergangene tätliche Angriffe auf Personal der Syndikatwelten. Es ist jetzt wichtiger, die Loyalen zu belohnen, anstatt jene bestrafen zu wollen, die irrtümlich den falschen Führern vertraut haben. Übernehmen Sie wieder die Kontrolle über Ihre Schiffe und unterstellen Sie sie meiner Autorität, damit ich Sie nicht nur vor den brutalen Streitkräften dieser Diktatoren, sondern auch vor der Faust der barbarischen Allianz-Streitkräfte bewahren kann, mit denen sich die Diktatoren verbündet haben. Wir werden Sie willkommen heißen, wir werden Sie beschützen, und wir werden Sie belohnen. Sie müssen nichts weiter tun als in Ihrem eigenen Interesse und dem des Volkes zu handeln. Für das Volk. Boyens, Ende.«
Missmutig schaute Marphissa auf die Stelle, an der sich eben noch das Fenster mit Boyens’ Bild befunden hatte. Seine Nachricht hätte vielleicht ein klein wenig ehrlicher geklungen, wenn er das letzte »Für das Volk« nicht so monoton runtergenuschelt hätte. Wie soll ich darauf reagieren?
»Er hält uns für Idioten«, knurrte ein Senior-Komm-Spezialist namens Lehmann.
»Das stimmt«, pflichtete Marphissa ihm bei. »Was würden Sie zu ihm sagen?«
Der Spezialist zögerte. Die Arbeiter waren im Syndikatsystem dazu erzogen worden, ihre Meinung nicht zu äußern, und wenn sie von Executives oder CEOs genau dazu aufgefordert wurden, dann handelte es sich dabei um nichts weiter als eine hinterlistige Falle. Aber er hatte den Wandel miterlebt, der im Alltag Einzug gehalten hatte, seit sich das Midway-Sternensystem für selbständig erklärte. Und er hatte gesehen, wie die ehemalige Executive und nun Kommodor Marphissa ihre Crew führte. Daher konnte sich der Spezialist auch dazu durchringen, etwas zu tun, was in früheren Zeiten äußerst leichtsinnig gewesen wäre: Er sah die Kommodor an und sprach aus, was ihm durch den Kopf ging. »Kommodor«, sagte er, »ich würde ihm erklären, dass wir keine Idioten sind. Dass wir nicht so einfältig oder so verrückt sind, den Versprechen eines CEO des Syndikats zu glauben. Dass … dass wir die Herrschaft durch die Syndikatwelten erlebt haben und wissen, dass es dabei nie um das Wohl der Bevölkerung geht. Dass Präsidentin Iceni und General Drakon uns innerhalb kurzer Zeit mehr Freiheiten gewährten, als wir ein Leben lang gekannt haben. Und dass sie uns die Freiheit und die Kraft gegeben haben, um über die Lügen eines CEO zu lachen!« Der Spezialist verstummte und sah besorgt drein, weil ein solcher Gefühlsausbruch zu Zeiten des Syndikats eine schwere Strafe nach sich gezogen hätte.