Marphissa schaute sich auf der Brücke um und entdeckte bei allen Spezialisten und Supervisoren Zustimmung zu den Worten ihres Kollegen. »Ich wüsste nicht, was man daran noch verbessern könnte, Senior-Spezialist Lehmann. Möchten Sie diese Antwort an den CEO schicken?«
Lehmann sah sie verdutzt an, wirkte sekundenlang noch etwas besorgter, aber dann setzte er eine trotzige Miene auf. »Ja, Kommodor, wenn Sie erlauben.«
»Ich werde Sie ihm vorstellen, und dann sagen Sie ihm das, was Sie gerade eben mir gesagt haben. Sie müssen es nicht ausschmücken oder umformulieren. Sagen Sie einfach, was Ihnen auf der Seele brennt.« Marphissa tippte den Sendebefehl ein und sorgte dafür, dass die Antwort nicht nur an Boyens, sondern an jedes Schiff in der Flotte des CEO und auch an Marphissas eigene Schiffe gesendet wurde. »CEO Boyens, niemand hier wird Ihr Angebot annehmen. Wenn jemand auf einem Ihrer Schiffe in die Freiheit entkommen will, dann ist er bei uns willkommen. Und nun lasse ich einen unserer Senior-Spezialisten antworten.«
Marphissa wartete, bis Senior-Spezialist Lehmann seine Äußerungen wiederholt hatte, dann richtete sie die Kamera wieder auf sich. »Für das Volk«, ergänzte sie und betonte dabei jedes Wort. »Marphissa, Ende.«
Sie hatte einen Manager verbal auf einen CEO losgehen lassen. Ein Gefühl der Erleichterung überkam sie und vertrieb die Angst vor einem solchen Verhalten, die man ihr ein Leben lang eingeimpft hatte.
Die Arbeiter in Boyens’ Flotte würden zu hören bekommen, was der Spezialist Lehmann ihrem CEO zu sagen hatte. Vielleicht würden sie seine Worte zum Handeln bewegen, auch wenn die Schlangen an Bord von Boyens’ Schiffen in ständiger Alarmbereitschaft und zahlreicher vertreten sein mussten als jemals zuvor. Es war nur eine schwache Hoffnung, eine Rebellion an Bord der Kriegsschiffe des Syndikats auslösen zu können, aber das zu hoffen, war momentan das Einzige, was sie tun konnte, während sie dasaß und zusah, wie andere über das Schicksal ihres Sternensystems entschieden.
»Eine Nachricht für uns von Black Jack?«, fragte Drakon. Er war umgehend zu Iceni gegangen, nachdem die ihn darüber informiert hatte. Sie hätten auch ihre eigenen Displays miteinander verbinden können, um ein virtuelles Treffen abzuhalten. Aber damit wären sie das viel zu große Risiko eingegangen, dass sich jemand in die Verbindung einschaltete und alles mitverfolgte. Nur ein persönliches Treffen in einem Raum, bei dem sicher war, dass keinerlei Überwachungsgeräte in ihm aktiv waren, konnte genügend Sicherheit bieten.
»Ja, sehen Sie es sich an, und dann sagen Sie mir, was Sie davon halten.« Sie betätigte ein paar Tasten, schon erschien Black Jacks Gesicht über dem Tisch. Admiral Geary wirkte und klang so formal wie immer.
»Präsidentin Iceni, General Drakon, ich muss zwei Dinge mit Ihnen besprechen. Zunächst einmal, Präsidentin Iceni, muss ich Sie darüber informieren, dass wir bei unserem Aufenthalt im von den Enigmas kontrollierten Gebiet einige dort festgehaltene Menschen aus einem Lager befreien konnten, in dem sie allem Anschein nach zu Studienzwecken untergebracht worden waren. Von denjenigen abgesehen, die dort in Gefangenschaft geboren wurden, stammen sie alle aus Kolonien oder von Schiffen der Syndikatwelten. Wir haben sie gründlich untersucht. Bei keinem von ihnen konnten Hinweise auf biologische oder anderweitige Kontamination festgestellt werden.
Ich muss eindringlich darauf hinweisen, dass keiner der Befreiten etwas über die Enigmas weiß. Sie waren in einem Asteroiden eingeschlossen, und sie haben nie gesehen, von wem sie dort festgehalten wurden. Sie können Ihnen nichts über die Enigmas berichten. Die lange Gefangenschaft hat bei jedem Einzelnen seelische, körperliche und emotionale Schäden verursacht. Angesichts ihrer Verfassung beabsichtige ich, die meisten von ihnen mit ins Allianz-Gebiet zu nehmen, wo man sich um sie kümmern wird, ehe man dafür sorgt, dass sie in ihre Heimatsysteme innerhalb der Syndikatwelten zurückkehren können. Drei Gefangene erklären jedoch, dass sie oder ihre Eltern von Taroa kommen, und fünfzehn andere behaupten, aus Ihrem System zu stammen. Diese achtzehn wollen sofort heimkehren, und wir möchten ihrem Wunsch nachkommen. Allerdings würde ich zuvor gern wissen, was Sie mir über die Zustände im Taroa-System sagen können. Und zudem möchte ich erfahren, was Sie mit den fünfzehn von Midway kommenden Personen machen werden. Ich fühle mich verpflichtet, dafür zu sorgen, dass sie nach ihrer Befreiung gut behandelt werden.«
Geary hielt einen Moment lang inne. »Das war das Eine. Die zweite Sache betrifft den weiteren Ausbau unserer Beziehungen zur neuen Regierung von Midway.«
Iceni hatte das alles schon gehört, und dennoch machte ihr Herz einen Satz, als er diese Worte sprach. Er hat dieses Sternensystem offiziell als unabhängig anerkannt, und er sieht in Drakon und mir die legitimen Herrscher. Das ist besser als alles, was ich erhofft hatte.
»Mein Vorschlag«, fuhr Geary fort, »geht dahin, einen erfahrenen Offizier als Repräsentanten der Allianz auf Ihre Welt zu entsenden. Auf diese Weise können wir unsere Verbundenheit mit Ihnen demonstrieren, und Sie erhalten die Möglichkeit, Ratschläge in Fragen der Verteidigung oder der weiteren Demokratisierung Ihrer Regierung einzuholen. Die Offizierin, die ich dafür vorschlagen möchte, ist Captain Bradamont, die derzeit noch als Befehlshaberin des Schlachtkreuzers Dragon dient. Sie ist eine hervorragende Offizierin, und da sie eine Zeitlang Kriegsgefangene der Syndiks war, hatte sie Kontakt mit Offizieren der Syndikatwelten und kann mit ihnen zusammenarbeiten. Captain Bradamont hat sich bereit erklärt, diese neue Aufgabe zu übernehmen. Doch ich benötige Ihr Einverständnis, um diesen Posten offiziell einrichten zu können, von dem aus meiner Sicht alle Beteiligten profitieren werden. Die Gesandten der Allianz-Regierung, die diese Flotte begleiten, haben bereits ihre Zustimmung gegeben, sodass wir nur noch von Seiten Ihrer Regierung eine Entscheidung hören müssen. Ich hoffe, bald von Ihnen bezüglich beider Angelegenheiten eine Antwort zu bekommen. Auf die Ehre unserer Vorfahren. Geary, Ende.«
Die Nachricht war am Ende angelangt, trotzdem saß Drakon noch einige Zeit da und sagte nichts. Schließlich drehte er sich zu ihr um. »Er will die Beziehungen zur neuen Regierung von Midway weiter ausbauen? Deute ich das richtig?«
»Ja, das heißt, die Allianz erkennt unsere Regierung an. Black Jack persönlich erkennt unsere Regierung an. Nur gibt es zwei Komplikationen.«
»Befassen wir uns erst mal mit der leichteren Sache«, schlug er vor. »Diese Leute, die von den Enigmas festgehalten wurden.«
»Die sind die leichtere Sache?« Sie sah ihn forschend an. »Nehmen Sie Black Jack wirklich ab, dass keiner von denen irgendwas über die Enigmas gewusst haben soll?«
»Ja.« Drakon verzog den Mund. »Nicht weil ich von Natur aus Allianz-Offizieren alles glauben würde, sondern weil es unsinnig wäre, uns eine Lüge aufzutischen, wenn er die Leute zu uns zurückschicken will. Wollte er sie behalten, wäre es eine andere Sache. Dann wäre ich misstrauisch. Aber wenn sie zurück bei uns sind, können wir sie selbst fragen, so gründlich wir nur wollen.«
»Und wieder einmal beweist Black Jack, dass er ein brillanter Politiker ist. Er liefert uns die Wahrheit und macht uns ein Angebot, das wir nicht abschlagen können.« Iceni trommelte mit den Fingern auf ihre Armlehne. »Diese Bürger … wir müssen sie aufnehmen. Wenn ansonsten herauskäme, dass wir sie nicht aufgenommen und Black Jacks Angebot abgelehnt haben, dann würden wir das teuer bezahlen. Man würde uns unterstellen, wir hätten uns mit ihm verschworen, um das Wissen dieser Bürger über die Enigmas zu verschweigen.«
»Wie Sie schon sagten, er ist brillant.«
»Nachdem er uns mit dieser Sache in die Ecke getrieben hat, stellt sich die Frage, wo wir sie unterbringen sollen. Was hat er gesagt, wo sie festgehalten wurden?«
»In einem Asteroiden.« Drakon rieb sich nachdenklich das Kinn. »Hört sich an, als hätte man sie sehr lange Zeit dort festgehalten. Sie wollen bestimmt nicht auf einer Planetenoberfläche ausgesetzt werden. Da hätten sie viel zu viel Raum um sich herum.«