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»Davon können wir ausgehen«, antwortete Marphissa. »Wir müssen herausfinden, ob …«

»Kommodor!«, fiel ihr der Wachspezialist ins Wort. »Wir haben den Kurs berechnet. Wenn die Schiffe des Syndikats mit Höchstgeschwindigkeit weiterfliegen, werden wir selbst bei maximaler Beschleunigung den neuen Kreuzer nicht vor ihnen erreichen können.«

Die Beförderung dieses Wachspezialisten war längst überfällig. »Kann der neue Kreuzer ihnen entkommen? Er sollte doch genügend Vorsprung haben.«

»Er ist mit einer großen Menge zusätzlicher Masse unterwegs, Kommodor. Das behindert ihn beim Beschleunigen. Wenn alles entsprechend der Berechnungen abläuft, werden die Syndikatsschiffe ihn einholen.«

Verdammt. Sie sah zu Kapitan Toirac, der mit starrem Blick auf sein Display schaute und dabei den Eindruck eines Mannes machte, der von der aktuellen Situation völlig überfordert war und sich alle erdenkliche Mühe gab, das niemanden merken zu lassen. Ich habe die Empfehlung ausgesprochen, ihm die Chance zu geben, dieses Schiff zu befehligen. Viele Junior-Executives haben sehr schnell Karriere gemacht, als wir die Reihen von den Syndikatsloyalisten gesäubert haben. Einige von ihnen sind damit gut zurechtgekommen. Aber mein alter Freund Toirac … Er war ein guter Executive. Aber war das womöglich das Höchstmaß an Verantwortung, das man ihm übertragen konnte? »Was meinen Sie, Kapitan?«, fragte sie.

»Wie? Ähm …« Wieder sah Toirac angestrengt auf sein Display. »Wir können sie nicht einholen … und wir sind zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen. Ich wüsste nicht, dass wir irgendetwas tun könnten.«

»Nichts zu tun ist auch eine Entscheidung, Kapitan«, sprach Marphissa mit leiser Stimme. »Das Ausbleiben einer Handlung ist auch eine Handlung. Ich werde nicht die Entscheidung treffen, dazusitzen und tatenlos zuzusehen, während dieses Schiff da draußen von den Streitkräften des Syndikats ausgelöscht wird.«

Toirac bekam einen roten Kopf. »Das könnte eine Falle sein.«

»Eine Falle? Der neue Kreuzer als ein Ablenkungsmanöver, um uns dazu zu veranlassen, ihn retten zu wollen?« Marphissa dachte darüber nach. »Es wäre möglich. Aber wenn es so ist, stellen sie sich ziemlich tollpatschig an. Sie hätten die Situation so arrangieren sollen, dass wir den Kreuzer noch rechtzeitig erreichen können, um ihm beizustehen. Und wenn es keine Falle ist? Was können wir unternehmen?«

Toirac saß da und zog nachdenklich die Brauen zusammen. »Eine Machtdemonstration? Etwas, um die Syndikatsschiffe abzulenken?«

»Ich wüsste nicht …« Marphissas Blick erfasste das Flaggschiff der Syndikatsstreitkräfte. Ein Schlachtschiff, das viel zu viel Feuerkraft besaß, als dass ihre Flotte einen Angriff hätte versuchen können. Nur ein verrückter Befehlshaber würde versuchen, dieses Schiff anzugreifen, während fast alle Eskortschiffe Jagd auf den Neuankömmling machten. »Rechnen Sie das durch«, befahl sie. »Ein Abfangkurs zum Flaggschiff der Syndikat-Flotte. Haben deren Schwere Kreuzer und Jäger Zeit genug, um den neuen Kreuzer anzugreifen und zu ihrem Schlachtschiff zurückzukehren, bevor wir es erreichen?«

Angefangen bei Toirac starrte jeder auf der Brücke sie für einen Sekundenbruchteil an, dann erwachte der eingeimpfte Sinn für Gehorsam, und sofort wurden in aller Eile Berechnungen durchgeführt.

»Nein«, verkündete Toirac vor allen anderen und lächelte, weil es ihm gelungen war, sein Geschick bei der Berechnung von Manövern zu beweisen. »Das heißt, wenn wir das versuchen würden, dann könnten sie nicht rechtzeitig wieder zurück sein, um uns davon abzuha …«

»Dann machen wir das.« Sie hatte das eigentliche Manöver bereits auf ihrem eigenen Display erstellt. »An alle Einheiten der Midway-Flotte: Hier spricht Kommodor Marphissa. Führen Sie das angehängte Manöver sofort durch. Ende.«

Vier Stunden später beobachtete Präsidentin Gwen Iceni auf dem bewohnten Planeten die Situation, die sich nahe dem Hypernet-Portal abspielte. Vier Stunden, die das Licht der Ereignisse benötigt hatte, um bei ihr einzutreffen. Durch die Ankunft eines unbekannten Kreuzers aufmerksam geworden sah sie nun mit an, wie eben dieser Kreuzer die Flucht ergriff und CEO Boyens einen Großteil seiner Flotte die Verfolgung aufnehmen ließ. Sie sah auf ihrem Display die Bestätigung, dass der neue Kreuzer seinen Verfolgern nicht würde entkommen können. Und sie wurde Zeuge, wie die Schiffe der Midway-Flotte auf neue Vektoren schwenkten und beschleunigten. Was hat Kommodor Marphissa vor? Sie wird doch nicht …

Ungläubig starrte Iceni auf die Anzeigen, als sich die Vektoren von Marphissas Kriegsschiffen einpendelten. Sie hatten geradewegs Kurs auf Boyens’ Schlachtschiff genommen — ein einzelnes Schlachtschiff, das der kompletten Midway-Flotte hoffnungslos überlegen war.

Das alles hatte sich schon vor vier Stunden abgespielt, was bedeutete, dass Marphissas gesamte Flotte — nein, meine gesamte Flotte — inzwischen vermutlich längst ausgelöscht war.

Sechs

»Falls sie das irgendwie überlebt haben sollte, werde ich sie höchstpersönlich umbringen!«

Togo, den Iceni zu sich gerufen hatte, stand mit ausdrucksloser Miene ein Stück neben ihr und war klug genug, kein Wort zu sagen.

Es war eine Schande, dass Sub-CEO Akiri nach allzu kurzer Zugehörigkeit zu ihrem persönlichen Stab vor einigen Monaten von einem Agenten der Schlangen ermordet worden war. Im Augenblick wollte sie einfach einen Offizier der mobilen Streitkräfte in ihrer Nähe haben, damit sie ihn anbrüllen konnte.

Auf dem Display über Icenis Schreibtisch befand sich die Midway-Flotte inzwischen auf ihrem vorgesehenen Kurs und beschleunigte kontinuierlich weiter, um das Schlachtschiff von CEO Boyens’ Flotte abzufangen. »Oh, ist das nicht wunderbar? Das ist das Sahnehäubchen!«

»Madam Präsidentin?«, fragte Togo irritiert.

»Sehen Sie nur! Achten Sie auf diese beiden Symbole. Die bedeuten, dass diese beiden Jäger sich auf einer Flugbahn befinden, die sie in das Syndikat-Schlachtschiff rasen lässt. Sie planen keinen Beschuss aus nächster Nähe, sondern eine Kollision!«

Togo zog die Brauen zusammen, sodass sich auf seiner üblicherweise glatten Stirn Falten bildeten. »Wie hat die Kommodor die Besatzung dieser beiden Schiffe dazu überreden können, einen solchen Befehl zu befolgen?«

»Das musste sie gar nicht! Dafür gibt es ferngesteuerte Befehlsschaltkreise. Mit den richtigen Codes kann Marphissa die Kontrolle über die anderen Schiffe in ihrer Flotte übernehmen. Ich habe ihr diese Codes anvertraut, und jetzt benutzt sie sie für eine Aktion, die mich enorm viel Zustimmung kosten wird!«

Dieses Mal nickte Togo verstehend. »Weil man glauben wird, Sie hätten die Besatzung dieser beiden Schiffe in den Tod geschickt. Das wird bei den anderen Einheiten der mobilen Streitkräfte nicht gut ankommen.«

»Und bei den Bürgern auch nicht! Ich sorge die ganze Zeit dafür, die Bürger mit einem Rinnsal an Veränderungen bei Laune zu halten, indem ich etwas für ihr Los tue und ihnen mehr Freiheit gewähre. Wäre ich eine typische CEO, würde niemand von ihnen mit der Wimper zucken, wenn ich das Leben von Mitbürgern so missachte. Aber von mir erwarten sie etwas anderes.«

»Sie verfügen über Codes, mit denen Sie die Codes widerrufen können, die Sie der Kommodor gegeben haben«, wandte Togo ein.

»Nur dass es vier Stunden dauern wird, bis meine Codes die ihren widerrufen! Womit ich ungefähr drei Stunden zu spät komme!«, zischte sie.

»Dieses Verhalten passt meiner Ansicht nach nicht zu Kommodor Marphissa«, überlegte ihr Assistent.

Iceni warf einen mürrischen Blick auf das Display. »Ob es zu ihr passt oder nicht, sie verhält sich aber so. Natürlich will ich Boyens und seine Flotte schnellstens loswerden, aber nicht auf eine Weise, die meine Position unterhöhlt. Das da wird sich wie ein Lauffeuer in allen umliegenden Sternensystemen herumsprechen, und alle werden mich wieder für eine typische CEO halten.«