Marphissa nickte stumm. Sie mussten die Gründe für diese schlechten Zustände nicht erst noch aussprechen. Die Sternensysteme auf beiden Seiten der Grenze waren jahrzehntelang besonders stark in Mitleidenschaft gezogen worden.
»Atalia verfügte über einen Jäger, als wir das System das letzte Mal durchquert haben«, redete Bradamont weiter. »Einen einzigen. Dort hält sich auch ein Kurierschiff der Allianz auf, das am Sprungpunkt nach Varandal aufpasst. Ihr Konvoi trifft in Atalia ein, dann warten Ihre Kriegsschiffe bei Atalia, während die Frachter nach Varandal weiterreisen.«
»Und was wird passieren, wenn sechs ehemalige Frachter des Syndikats plötzlich bei Varandal auftauchen?«, wollte Marphissa wissen.
»Die Allianz-Behörden werden wissen wollen, wer sie sind und was sie wollen. Man wird nicht sofort das Feuer auf sie eröffnen, sobald man sie bemerkt. Würden Sie das machen, wenn Frachter der Allianz in Ihr System kämen?«
»Nein.« Hindernisse, Einwände. Was konnte diesen Plan daran hindern, in die Tat umgesetzt zu werden? »Würde man uns die Gefangenen aushändigen?«
Bradamont verzog den Mund und rieb sich den Nacken. »Genau genommen müssten wir sie den Syndikatwelten übergeben. Aber das wird immer schwieriger, da ständig weitere Sternensysteme dieser Regierung den Rücken kehren. Außerdem können wir die Syndikatwelten immer noch nicht leiden. Es wäre alles andere als human, die Leute, die aus soeben unabhängig gewordenen Systemen stammen, den Syndiks auszuliefern.«
»Human?«, wiederholte Marphissa sarkastisch.
»Warum sagen Sie das so?«, wunderte sich Bradamont.
»Weil das … weil das ein Witz ist. Niemand benutzt dieses Wort und meint es auch so. Man sagt das nur und meint eigentlich etwas ganz anderes damit.«
»Oh.« Bradamont wirkte einen Moment lang irritiert, dann fasste sie sich wieder. »Dann sagen wir doch einfach, die Allianz-Flotte bei Varandal möchte die Gefangenen so schnell wie möglich loswerden.«
Sorgfältig stellte Marphissa ihr Glas auf den Tisch und bemerkte dabei, wie sehr ihre Hand zitterte. »Wie viele?«, flüsterte sie. »Von wie vielen Gefangenen haben Sie gesprochen?«
»Die genaue Zahl weiß ich nicht, aber es sind etwa viertausend. Das ist jedenfalls die Größenordnung, die unter uns kursiert.«
»Viertausend.« Viertausend von wie vielen insgesamt? Aber wenn ein Schiff zerstört wurde, geschah das oft so schnell, dass niemand eine Chance hatte, das zu überleben. Man konnte schon von sehr großem Glück reden, dass überhaupt viertausend Leute eine Schlacht überlebt hatten, bei der so viele Schiffe zerschossen worden waren. »Wir hatten keine Ahnung. Viele von diesen Männern und Frauen sind unsere Freunde. Die Reserveflotte war zwar auch ein beliebtes Kommando für Strafversetzungen, doch die Mehrzahl der Leute kam aus der Region. Eine Menge Soldaten stammen von hier oder aus umliegenden Sternensystemen.«
»Es tut mir leid. Ich hätte es früher erwähnt, wenn mir klar gewesen wäre …«
»Ist schon in Ordnung«, seufzte Marphissa. »Wir waren einfach davon ausgegangen, dass sie alle tot sind. Wir konnten gar nichts anderes annehmen, weil es immer so gewesen war.«
»Ich weiß.« Bradamont nickte finster. »Wir haben das Gleiche angenommen, wenn unsere Leute den Syndiks in die Hände fielen.«
»Ich muss dafür erst die Zustimmung von Präsidentin Iceni einholen. Wir können uns darüber noch gar keine konkreten Gedanken machen, solange wir diese … na ja … diese spezielle Operation vor uns haben, um die Syndikat-Flotte zu verjagen. Wenn das gelungen ist, bedeutet es, dass eine kleine Flotte losgeschickt werden muss, um die Frachter zu begleiten. Bis diese Schiffe zurückkehren, wird auch einige Zeit vergehen. Das dürfte es schwierig werden lassen, diese Idee schmackhaft zu machen, weil wir nur über so wenige Einheiten verfügen. Und ehrlich gesagt: Wenn es nicht Präsidentin Iceni wäre, die entscheiden muss, dann bräuchte man es gar nicht erst zu versuchen. Ich glaube, unsere Präsidentin wird diese Idee ohne Bedenken begrüßen, allerdings werden einige Berater versuchen, sie von dieser Idee abzubringen. Die Frage ist ja schließlich: Welchen Gewinn soll das bringen?«, fügte Marphissa verbittert an. »Und General Drakon dürfte auch nicht so leicht davon zu überzeugen sein.«
»Nach allem, was ich über General Drakon gehört habe, ist er gar nicht so übel. Trotzdem könnte es sein, dass er noch ein besonders überzeugendes Argument hören muss.« Bradamont schaute sich ernst um, dann machte sie eine ausladende Geste. »Ihr Schlachtschiff muss ja auch erst noch vollständig ausgerüstet werden. Haben Sie eigentlich schon eine Crew zusammengestellt?«
»Nur eine Minimalcrew«, räumte Marphissa ein. »Es dürfte sich noch zu einem ernsten Problem entwickeln, ausreichend geschultes Personal zu finden, um für dieses Schiff eine Besatzung zusammenzustellen. Und dann wird bei Taroa momentan noch ein zweites Schiff gebaut, das früher oder später ebenfalls eine Besatzung benötigt. Unser Ehrgeiz und unsere Hardware übersteigen derzeit unseren Personalbestand.«
»Die viertausend Überlebenden der Reserveflotte könnten sich in dieser Hinsicht doch als ganz nützlich erweisen«, warf Bradamont ein.
»Das stimmt.« Marphissa betrachtete das noch lange nicht fertiggestellte Abteil, in dem sie sich aufhielten, und begann sich vorzustellen, wie es hier von Leuten wimmelte, von denen sie fest geglaubt hatte, sie niemals wiederzusehen. »Sie leben, sie sind geschult. Viele haben Midway als ihr Zuhause angesehen, ehe sie von hier weggeholt wurden. Mit diesen Gründen habe ich ganz gute Argumente in der Hand, um die Leute zu überzeugen, die bei der Entscheidung für oder gegen die Mission mitreden dürfen. Verdammt, ich glaube, jetzt will ich Sie wirklich küssen, Sie Allianz-Monster.«
Bradamont grinste sie an. »Lassen Sie bloß Ihre dreckigen Finger von mir, Syndik-Abschaum.«
»Ist es bei Ihnen auch üblich, sich gegenseitig zu beleidigen, um Freundschaft zum Ausdruck zu bringen, Allianz-Dämon?«
»Diese Sorte Beleidigungen bekommen bei uns nur die Besten der Besten zu hören, Syndik-Schreckschraube.«
»Danke für das Kompliment, Allianz-Teufel.«
»Gern geschehen, Syndik-Wilde.«
»Kein Problem, Allianz-Ghul.«
»Ganz meinerseits, Syndik-Satan.«
Marphissa unterbrach sich. Ihr wurde klar, dass ihr der Alkohol zu Kopf gestiegen war, aber es kümmerte sie nicht, wenn man davon absah, dass sie sich nur mit Mühe konzentrieren konnte. Sie zog ihre Komm-Einheit aus der Tasche. »Ich muss gerade mal nach weiteren Begriffen suchen.«
»Was dagegen, wenn ich in der Zwischenzeit noch was trinke?«, fragte Bradamont.
»Bedienen Sie sich, Sie … Allianz-Harpyie.«
»Besten Dank.« Bradamont sah auf ihre eigene Komm-Einheit. »Wir sollen uns besser kennenlernen, Sie Syndik- … Widerling. Ich kann so lange durchhalten wie Sie.«
Als Kapitan-Leytenant Kontos schließlich voller Sorge, es könnte ihnen was passiert sein, nach den beiden Offizierinnen sah, sah er eine leere Flasche auf dem Tisch stehen, während die zwei Frauen sich in den Armen lagen und um gefallene Freunde weinten.
Marphissa gab der Manticore Bescheid, dass die Inspektion der Midway länger dauern würde als erwartet.
Am nächsten Morgen war der Kater dank einer großzügigen Portion Schmerzmittel zwar nicht wie in Luft aufgelöst, aber zumindest unter Kontrolle. Marphissa schickte den »Bericht« ihrer Inspektion der Midway ab, der auch den im schriftlich erteilten Befehl erwähnten Codesatz enthielt (»mit der richtigen Unterstützung kann alles plangemäß erledigt werden«). Dann brachte sie Captain Bradamont — deren Uniform mit einem Standard-Crewoverall der Syndikatwelten verdeckt war, der die Dienstabzeichen eines Midway-Kapitans trug — zum Shuttle der Manticore, wo sie mit Kontos zusammentrafen. Der war nicht erfreut darüber, die Midway verlassen zu müssen, dennoch befolgte er seine Befehle, die ihn vorübergehend auf die Manticore schickten.