Die Steuerdüsen wurden abgefeuert, der Bug der Manticore wurde nach oben gedrückt, bis das Schiff sich so weit um seine Querachse gedreht hatte, dass der Bug in die Richtung zeigte, aus der sie kamen. Damit war der am massivsten gepanzerte Punkt der Schiffshülle auf die ihnen beharrlich folgenden Raketen ausgerichtet Die Höllenspeere feuerten weitere Geschosse ab.
»Alle Hauptantriebseinheiten auf maximale Beschleunigung«, befahl Bradamont.
Der Maschinen-Spezialist zögerte nur für den Bruchteil einer Sekunde. »Alle Hauptantriebseinheiten bei maximaler Beschleunigung«, meldete er dann.
Die Manticore ächzte unter der auf das Schiff einwirkenden Belastung, da die Hauptantriebseinheiten jetzt in die Richtung wiesen, in die sie nach wie vor unterwegs waren, und das Schiff so stark abbremsten, dass auf dem Display etliche Warnsymbole aufleuchteten. Wer keinen Sitzplatz hatte, musste sich irgendwo festhalten, weil die Fliehkräfte das Leistungsvermögen der Trägheitsdämpfer überstiegen.
»Wie lange hält die Manticore das durch?«, murmelte Bradamont an Marphissa gerichtet.
Marphissa warf einen Blick auf die Anzeigen für die Belastung der Schiffshülle, die sich rasch dem roten Bereich näherten. »Bei dieser Leistung zehn Sekunden, aber nicht länger.«
»Das reicht.«
Die Raketen, die mit Höchstleistung beschleunigt hatten, um auf den Punkt zuzuhalten, an dem sie die Manticore eingeholt hätten, wäre deren Beschleunigung unverändert geblieben, sahen sich mit einem Mal gezwungen, auf einen viel kürzeren Abfangkurs zu wechseln, weil ihr Ziel mit aller Macht abbremste. Die Kurve, die die Raketen fliegen mussten, um die Manticore nicht zu verlieren, war so extrem eng, dass ein Großteil der Geschosse der dabei auftretenden Belastung nicht gewachsen war und sie beim Versuch des Wendemanövers einfach zerbrachen.
Sechs Projektile überlebten das Manöver, doch für ein paar Sekunden befanden sie sich damit im Verhältnis zur Manticore nahezu im Stillstand. Die Höllenspeere zuckten auf ihre Positionen zu und trafen jede noch verbliebene Rakete.
»Reduzieren Sie den Schub aller Hauptantriebseinheiten auf zwei Drittel Leistung«, befahl Bradamont. Die Belastung für die Manticore ließ sofort spürbar nach, die Warnsymbole zögerten einen Moment lang, erloschen dann aber, als die Anzeigen in ungefährliche Bereiche zurückkehrten.
»Alle Schiffe der Syndikat-Flotte ändern ihre Vektoren«, meldete die Ablauf-Spezialistin. »Kapitan, die Syndikat-Flotte nimmt Kurs auf das Hypernet-Portal.«
»Eine kluge Entscheidung«, merkte Marphissa an. Ihre Freude darüber wich aber schnell einem Gefühl der Enttäuschung. Die Schweren Kreuzer, die die Manticore verfolgt hatten, drehten ebenfalls ab und beeilten sich, wieder Anschluss an ihr Schlachtschiff zu finden. »Schade, dass sie nicht noch kämpfen wollen.«
Die Kriegsschiffe der Allianz rasten hinter der Syndikat-Flotte her, doch die Berechnungen auf ihrem Display ließen erkennen, dass sie nicht mehr in Waffenreichweite gelangen würden, bevor CEO Boyens’ Flotte das Portal als Fluchtweg benutzen konnte. »Warum konnte Black Jack sie nicht mehr einholen?«, fragte sie mit leiser Stimme Bradamont.
»Das Ziel des Plans war es, die Flotte aus dem System zu vertreiben«, gab sie im gleichen Tonfall zurück. »Ob mit oder ohne Kampf. Wir haben Boyens dazu verleitet, auf ein Schiff zu feuern, das die Flagge der Allianz trägt. Damit hat er Admiral Geary einen Grund geliefert, das Feuer zu erwidern. Aber wenn CEO Boyens einem Kontakt lieber aus dem Weg geht, kann Admiral Geary ihn zu nichts zwingen. Aber der Trick bewirkt, dass die Flotte der Syndikatwelten das Weite sucht.«
Marphissa war noch immer missgelaunt über diese Entwicklung und schaute nach, wo sich der Rest der Midway-Flotte befand, die in einer leichten Kurve einen Abfangkurs zu den fliehenden Schweren Kreuzern hielt. Die Chancen für einen Kampf zwischen zwei Schweren Kreuzern hatten sich seit dem letzten Mal nicht verbessert. »Hier spricht Kommodor Marphissa. An die gesamte Midway-Flotte: Achten Sie darauf, dass Sie außerhalb der Reichweite der gegnerischen Waffen bleiben, es sei denn, irgendeines der Schiffe will zu uns überlaufen.«
»Wie stehen die Chancen, dass so etwas passiert?«, wollte Bradamont wissen, während sie den Vektor der Manticore erneut änderte, damit das Schiff sich dem Rest der Midway-Flotte anschließen konnte.
»Sie könnten gut stehen«, antwortete Marphissa. »Es hängt davon ab, wie groß die Zahl der Schlangen auf jedem dieser Schiffe ist und wie gut die aufpassen. Die Frage ist auch, wie loyal die Offiziere und der Rest der Crew zu den Syndikatwelten stehen. Außerdem ist da auch noch sehr viel Glück im Spiel. Und mit Blick darauf, dass diese Schiffe durch das Hypernet-Portal entkommen wollen, bleibt ohnehin nur wenig Zeit für eine Meuterei.«
»Kommodor …«, begann die Komm-Spezialistin, verstummte aber gleich wieder und schaute verdutzt drein.
Marphissa hatte sich noch nicht zu dieser Station umdrehen können, da sah sie, dass in der Nähe des Schlachtschiffs ein Alarmsignal pulsierte. »Ein Leichter Kreuzer der Syndikat-Flotte ist soeben explodiert.« Es dauerte einen Moment, ehe sie begriff, dass das gerade eben ihre Worte gewesen waren. »Was ist geschehen?«
»Die Syndikat-Flotte hat abgesehen von den auf uns angesetzten Raketen nichts abgefeuert«, bestätigte die Ablauf-Spezialistin.
»Nach der Signatur der Explosion zu urteilen«, äußerte sich der Maschinen-Spezialist, »hat eine Überladung des Antriebs stattgefunden. Es gab keine Hinweise darauf, keine Warnzeichen. Es ist einfach passiert.«
»Wie kann das einfach so passieren?«, wollte Marphissa wissen. »Es gibt Sicherheitsvorkehrungen, sowohl physischer Art als auch in der Software. Es gibt Passwörter, Sequenzen, die befolgt werden müssen. Es existieren automatische Korrekturmaßnahmen. Wie kann ein Antrieb ganz ohne Vorwarnung explodieren?«
»Kommodor«, sagte die Komm-Spezialistin mit leiser Stimme. »Ich glaube, ich weiß die Antwort. Unmittelbar bevor der Leichte Kreuzer explodierte, ging eine Nachricht bei uns ein, die mit einem gerichteten Strahl speziell an uns geschickt wurde. Die Identifizierung nennt CL-347 als Absender. Ich konnte nur noch Freiheit oder hören, danach brach die Verbindung ab.«
Marphissa legte eine Hand an ihr Gesicht und war sich der Stille bewusst, die sich über die Brücke herabgesenkt hatte. Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich zu sammeln, dann ließ sie die Hand sinken und schaute sich um. »Die Schlangen haben sich einen neuen Trick ausgedacht, vielleicht kommt das aber auch von CEOs. Offenbar zerstören sie lieber ein ganzes Schiff, anstatt die Crew entkommen zu lassen.« Es war nicht nötig, näher darauf einzugehen. Jeder hasste die Schlangen und ihre Vorgesetzten auch so schon aus tiefstem Herzen. Aber ein Vorfall wie dieser war dazu angetan, die allgemeine Entschlossenheit zu stärken, dass man lieber bis zum Tod kämpfen würde, statt sich zu ergeben.
»Die Syndikat-Flotte ist ins Hypernet-Portal geflogen«, meldete die Ablauf-Spezialistin. »Das Sternensystem ist jetzt frei von mobilen Streitkräften des Syndikats.«
Bradamont nickte, um den Bericht zu bestätigen. »Die Operation ist damit abgeschlossen.« Ihre Stimme wirkte niedergeschlagen, da der Tod des Leichten Kreuzers wie ein Schatten über dieser Mission lag und jeden Wunsch, den Triumph zu feiern, im Keim erstickte. »Kommodor, an wen gebe ich jetzt das Kommando über die Manticore zurück? An Sie oder …?«
Kapitan Toirac versteifte sich, als er die Frage hörte, sagte selbst aber nichts. Kontos, der immer noch hinter ihm stand, hatte seine Waffe inzwischen weggesteckt, doch davon wusste Toirac nichts.
Vielleicht hätte Marphissa trotz aller Vorkommnisse doch noch einmal gezögert, zu dieser letzten Maßnahme zu greifen. Doch nachdem sie die Zerstörung des Leichten Kreuzers hatte mitansehen müssen, ließ ihre Laune keinen Spielraum mehr für auch nur einen Funken Toleranz gegenüber jemandem, der seiner Verantwortung weder nachkommen konnte noch wollte.