„Sie sind ja eine ganze Ewigkeit fortgeblieben“, zankte er ihn aus.
„Ich fand nicht eher die richtigen Stifte.“
„Jetzt aber haben Sie welche?“
„Ja.“
„Gut. Hier ist Papier.“
Schneffke hatte gar nicht nötig gehabt, sich farbige Stifte zu kaufen. Er trug stets dergleichen in einem Etui bei sich. Er zog dieses letztere hervor, setzte sich an den Tisch und begann zu zeichnen. Der Alte stand hinter ihm und folgte mit der größten Spannung den Bewegungen seiner Hand.
Schneffke spannte ihn dadurch auf die Folter, daß er zunächst die hinteren Teile des Kopfes zeichnete.
„Schnell, schnell! Das Gesicht“, sagte Untersberg.
„Warten Sie; warten Sie! Alles hat seine Zeit!“
Jetzt begann er mit Stirn, Nase und Mund. Als er das eine Auge beendet hatte, rief der Alte:
„Himmel! Er ist's!“
„Wer?“
„Mein Sohn. So war er; so war er, ganz genau so!“
„Warten Sie noch.“
Der Alte stand hinter ihm, mit ausgestreckter Hand, bereit, das Papier sofort nach dem letzten Strich zu erfassen. Er hatte das Aussehen eines bösen Geistes, welcher im Begriff steht, sich auf eine arme Seele zu stürzen. Sein Wunsch, sein heißer Wunsch, das Bild seines Sohnes zu besitzen, war erfüllt.
„So“, sagte Schneffke sich erhebend. „Da ist der Kopf. Sie meinen also, daß er ähnlich ist?“
„Ja, ja! Vollkommen. Zeigen Sie. Her damit!“
Seine Augen ruhten mit halb irrem Blick auf dem Blatt; dann sagte er:
„Das ist mein; das bekommen Sie nicht wieder. Ich werde es sofort einschließen, sofort.“
Er eilte in das Nebenzimmer. Der Hund folgte ihm. Das war dem Maler lieb. Er eilte an die Tür und öffnete.
„Schnell, schnell“, flüsterte er.
„Wo ist er?“ fragte der Baron, leise eintretend.
„Da draußen. Verstecken Sie sich da hinter den Ofen.“
Bas-Montagne tat es, und der Maler trat wieder an den Tisch. In diesem Augenblick kehrte der Alte zurück. Er machte die Tür zum Nebenzimmer zu, ohne zu bemerken, daß der Hund draußen geblieben war.
„Also sind Sie mit dem Kopf zufrieden?“ fragte der kleine Dicke lächelnd.
„Ja, ja“, antwortete Untersberg.
Sein Auge ruhte dabei forschend auf dem Frager.
„Das ist mir lieb.“
„Aber mir vielleicht nicht?“
„Warum nicht? Sie wollten das Bild doch haben.“
„Ist es wirklich nur Phantasie?“
„Nein.“
„Ah! Alle Donner! Also doch nicht.“
„Nein. Jeder Zeichner muß etwas Wirkliches zugrunde legen; so ist es auch bei mir.“
„Sie haben also einmal einen solchen Kopf gesehen?“
„Ja.“
„Wann?“
„Vor einiger Zeit.“
„Wo?“
„In Frankreich.“
„Donnerwetter! An welchem Ort?“
„In Thionville.“
„War die Ähnlichkeit groß?“
„Sehr. Nur war der Mann älter als ich ihn hier bei Ihnen porträtiert habe.“
„Was war er?“
„Bankier.“
„Ach so. Woher?“
„Aus Nordamerika.“
„Haben Sie seinen Namen erfahren?“
„Ja. Er hieß Deep-hill, auf französisch Bas-Montagne und auf deutsch Untersberg.“
Da fuhr der Alte zurück und rief:
„Mensch, ist das wahr?“
„Natürlich.“
„Wo befindet sich dieser Mann jetzt?“
„Hier ist er“, erklang es vom Ofen her.
Untersberg drehte sich erschrocken um. Dort stand sein Sohn, welcher hinter dem Ofen hervorgetreten war.
„Gaston!“ rief der Alte.
„Herr Baron!“ antwortete der Sohn, welcher kein Zeichen der Freude gab, seinen Vater wiederzusehen.
„Gaston! Wie kommst du hier herein?“
„Durch die Tür.“
„Sie war verschlossen.“
„Ist das alles, an was du jetzt denkst? Denkst du nur an den Riegel, den du vorgeschoben hattest? Denkst du an nichts anderes, an nichts Wichtigeres?“
„Oh, ich denke daran!“
„Nun, an was denn?“
„An die Freude des Wiedersehens.“
„Fühlst du sie wirklich?“
„Zweifelst du daran?“
„Du hast nicht das Aussehen eines Vaters, welcher entzückt ist, von seinem Sohn überrascht worden zu sein.“
„O doch! Komm her an mein Herz.“
Er öffnete die Arme.
„Laß das!“ wehrte der Sohn ab. „Spielen wir nicht Komödie.“
„Komödie? Ich freue mich wirklich, aufrichtig.“
„Wollen sehen. Ich komme zunächst nicht als Sohn zu dir.“
„Als was denn?“
„Als Mann meines Weibes.“
„Wieso?“
„Ich habe dich nach ihr zu fragen.“
„Ich weiß nicht mehr von ihr, als das, was ich dir vor Jahren mitgeteilt habe. Ich hörte nie wieder von ihr.“
„Ich hoffe, daß du dies zu beweisen vermagst.“
„Sicher. Setze dich. Ich werde Wein holen –“
„Wein? Laß den Wein. Die Familienangelegenheiten gehen vor; sie müssen wir besprechen.“
„Gut. Ganz wie du willst. Aber hier ist ein Mann, den diese Sachen nichts angehen. Herr Schneffke, wir sind für heute fertig. Kommen Sie morgen wieder, um sich das Honorar für die Zeichnung zu holen.“
„Ihr seid noch nicht fertig!“ fiel der Sohn ein.
„Wieso? Was weißt du von unserem Geschäft?“
„Nichts; aber ich weiß, daß er gerade jetzt hierher gehört. Er muß hören, was wir miteinander sprechen.“
„Ah! Warum?“
„Er kennt unsere Angelegenheiten besser als wir beide.“
Da warf der Alte einen glühenden Blick auf den Mater und fragte diesen:
„Ist das wahr?“
„Ja“, lautete die furchtlose Antwort.
„Sie wissen, daß dieser Herr mein Sohn ist?“
„Ja.“
„Sie haben ihn zu mir gebracht?“
„Wie Sie sehen.“
„So haben Sie gewußt, daß ich eigentlich Bas-Montagne heiße, nicht aber Untersberg?“
„Ich vermutete es.“
„Woher?“
„Davon später.“
„So haben Sie mich also getäuscht?“
„Nein. Sie wünschten das Portrait Ihres Sohnes. Ich habe ihn in Person gebracht und erwarte eigentlich dafür den Ausdruck Ihrer Dankbarkeit.“
„Der Teufel soll Ihnen danken. Sie haben mich betrogen. Wissen Sie, daß ich meinen Hund auf Sie hetzen werde?“
„Versuchen Sie es!“
„Pah!“ sagte der Sohn. „Das sind Kindereien. Lassen wir sie. Wir haben Wichtigeres zu tun. Setzen Sie sich, Herr Schneffke. Wir wollen diesem Herrn Untersberg doch einmal ein paar Fragen vorlegen.“
Er nahm Platz, und der Maler tat dasselbe. Der alte Baron ließ seinen Blick von dem einen nach dem anderen schweifen. Seine Lippen zuckten, und sein Gesicht war der Spiegel ängstlicher Besorgnis.
„Ich begreife dich nicht!“ stieß er hervor.
„Du wirst mich begreifen lernen. Erinnerst du dich noch des Tages, an welchem meine Frau verschwunden war?“
„Ja.“
„Weiß du, weshalb sie verschwand?“
„Natürlich! Sie war dir untreu geworden.“
„Das ist Lüge. Damals habe ich an diese Untreue geglaubt, jetzt aber tue ich das nicht mehr.“
„Ich kann die Beweise dafür bringen.“
„Womit?“
„Durch Briefe, welche sie mit ihrem Verführer gewechselt hat.“
„Bist du im Besitz derselben?“
„Ja.“
„Zeige sie mir.“
„Sogleich.“
Der Alte öffnete ein Fach und zog ein Päckchen hervor, das er seinem Sohne mit den Worten gab:
„Da sind sie. Lies!“
Der Baron öffnete einen nach dem anderen und las sie, ohne sich merken zu lassen, welchen Eindruck der Inhalt auf ihn mache. Dann fragte er:
„Warum hast du mir diese Briefe damals nicht gezeigt?“