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„Welch ein Glück, einen Vater zu finden! Herr Doktor, mir ist stets, stets so gewesen, als ob ich vaterlos sei. Ich kann diesem schwachsinnigen Mann, den ich doch Vater nennen muß, unmöglich die Liebe eines Kindes entgegenbringen. Und meine Mutter – – – tot! Zwar sagten sie, daß sie möglicherweise noch am Leben sei, aber – – –“

Sie stockte. Er hatte sich vorgenommen, ihr noch nichts zu sagen, aber in dem jetzigen Augenblick floß ihm das Herz über.

Er sagte:

„Ich pflege mir ein jedes Wort genau zu überlegen, gnädiges Fräulein!“

„Das weiß ich; aber dennoch sind Sie dem Irrtum unterworfen. Sie irren sich!“

„Diesmal nicht.“

„Wie, Sie wollen wirklich behaupten, daß Liama, meine Mutter, noch lebe?“

„Ich behaupte es noch jetzt.“

„Sie müssen sich irren!“

„Nein. Ich sage Ihnen sogar, daß Sie dieses Schloß nicht ohne Ihre Mutter verlassen werden.“

Ihre Augen wurden größer, und ihre Wangen entfärbten sich. Es war ihr, als ob sie einen Geist erblicke.

„Herr Doktor“, stieß sie hervor, „was soll ich von diesen Worten denken?“

„Daß sie wahr sind. Ihre Mutter lebt. Sie selbst haben sie gesehen.“

„Damals am alten Turm? Das war ihr Geist.“

„Nein. Sie war es selbst. Ich kann es Ihnen beweisen.“

„Wie denn? Wie?“

„Wollen Sie Ihre Mutter sehen?“

„Ich begreife Sie nicht!“

„Nehmen Sie das, was ich sage, ganz wörtlich. Ich habe mit Liama gesprochen.“

„Herrgott! Ist's wahr? Wann?“

„Als der Kapitän krank war. Die Krankheit kam von mir, gnädiges Fräulein.“

„Wieso?“

„Ich gab ihm Tropfen, welche ihn für diese kurze Zeit an das Lager fesselten. Dadurch gewann ich Muße, in seine Geheimnisse einzudringen.“

„Herr Doktor, Sie sind ein rätselhafter, vielleicht ein fürchterlicher Mensch, und doch habe ich ein so unendliches Vertrauen zu Ihnen.“

„Bitte, halten Sie es fest. Ich werde es nie, nie täuschen. Ich habe während der Krankheit des Kapitäns nach Liama gesucht und sie gefunden.“

„Lebend, wirklich lebend?“

„Ich sagte bereits, daß ich mit ihr gesprochen habe.“

Marion ließ sich ganz kraftlos auf einen Sessel nieder.

„Was höre ich da?“ sagte sie leise. „Träume ich, oder ist es wirklich Wahrheit?“

„Es ist die Wahrheit.“

„Aber wie kann sie leben, da sie doch begraben worden ist! Wer könnte eine solche Täuschung wagen?“

„Der Kapitän.“

„Aus welchem Grunde?“

„Das ist mir noch ein Rätsel, das ich aber hoffentlich noch ergründen werde.“

„Ich muß mich fassen. Ich bin meiner Sinne kaum mächtig; aber ich will ruhig und objektiv sein. Sagen Sie, wo sich Liama befindet!“

„In einem Gewölbe unter ihrem Grab.“

„Dort haben Sie sie gesehen?“

„Und mit ihr gesprochen.“

„Fragte sie nach mir?“

„Ja.“

„Mein Jesus! Wollte sie mich nicht sehen?“

„Nein. Sie hat geschworen, tot zu sein und auf ihr Kind zu verzichten.“

„Ist das wahr?“

„Ja.“

„Dann ist sie es nicht; dann ist es eine andere!“

„Warum?“

„Kann eine Mutter auf ihr Kind verzichten? Kann eine Mutter sich zu etwas hergeben, was man nicht anders als Betrug und Schwindel nennen muß? Kann sie sich dazu hergeben und obendrein ihr Kind verlassen?“

„Ja.“

Dieses Wort war mit so fester Betonung gesprochen, daß sie rasch zu ihm aufblickte.

„Welcher Ton!“ sagte sie. „Ich bin überzeugt, daß auch Sie einer liebenden Mutter eine solche Tat nicht zutrauen. Habe ich recht, Herr Doktor?“

„Sie haben unrecht. Gerade weil es eine liebende Mutter war, hat sie sich dazu bestimmen lassen.“

„Können Sie das erklären?“

„Ja. Liama ist verschwunden, um ihr Kind zu retten. Der Kapitän hat ihr gedroht, dieses Kind zu töten, wenn sie ihm nicht gehorche. Sie hat ihm Gehorsam geleistet, um ihr Kind zu retten. Um es nicht noch jetzt in Gefahr zu bringen, verzichtet sie auch, ihr Kind gegenwärtig zu sehen, obgleich all ihr Denken an demselben hängt.“

Da sprang Marion von ihrem Sitz auf. Ihre Augen glühten wie Irrlichter. Ihre Stimme klang fast heiser, als sie sagte:

„Herr Doktor, Sie wissen, wie sehr ich Ihnen vertraue. Ich schwöre darauf, daß Sie mir nie eine Unwahrheit sagen werden, und dennoch frage ich Sie noch einmaclass="underline" Irren Sie sich nicht? Haben Sie wirklich mit Liama gesprochen?“

„Ich entsage dem Himmel und der Seligkeit, wenn ich mich geirrt habe! Glauben Sie mir nun?“

„Ja, ja, nun glaube ich es! Es ist entsetzlich! Meine Mutter, meine arme, arme Mutter! Aber ich werde sie rächen, so fürchterlich, wie das Verbrechen ist, welches man an mir und ihr verübt hat. Herr Doktor, darf ich sie sehen?“

„Sie will nicht!“

„Aber ich, ich will sie sehen!“

„Ich gehorche.“

„Wann also?“

„Heute abend. Können Sie um Mitternacht das Schloß verlassen, ohne bemerkt zu werden?“

„Wenn ich es will, so kann ich es. Wissen Sie, was ich tun werde?“

„Ich ahne es.“

„Nun?“

„Sie werden mit Liama von Ortry fortgehen?“

„Nein. Ich werde mit Liama in Ortry bleiben. Ich werde die Polizei der ganzen Umgegend in die Gänge dieses Schlosses führen; ich werde – – – ah, was werde ich tun! Ich weiß es selbst noch nicht!“

Sie befand sich in einer unbeschreiblichen Aufregung. Und gerade jetzt kehrten die beiden Schwestern zurück.

„Schweigen Sie!“ raunte Müller ihr leise zu; dann entfernte er sich.

Als kurze Zeit später die drei Damen die Freitreppe hinabstiegen, kam der alte Kapitän gerade aus dem Stall. Er trat ihnen entgegen und fragte: „Du hat einen Brief bekommen?“

„Ja.“

„Von wem?“

„Von der Person, die ihn geschrieben hat!“

Diesen Ton hatte er von ihr noch nicht gehört, trotzdem sie sich in letzter Zeit öfters so kampfbereit gezeigt hatte. Und so hatten auch ihre Augen ihn noch nicht angeblitzt wie jetzt. Das war nicht allein Haß; das war eine förmliche Herausforderung. Er aber war nicht der Mann, sich in dieser Weise abweisen zu lassen. Er sagte:

„Das versteht sich ganz von selbst. Eine solche Antwort mußt du einem Kind oder einem Irrsinnigen geben, aber nicht mir. Ich frage: Woher ist der Brief?“

„Du wirst ihn kontrolliert haben!“

„Nein. Ich bin ja überzeugt, daß du es sagen wirst!“

„Du hast seit Kurzem immer Überzeugungen, welche sich später als hinfällig erweisen.“

Sie wendete sich ab. Er faßte sie am Arm.

„Halt! Wohin?“

Da schleuderte sie seinen Arm von sich und antwortete:

„Das geht Sie nichts an, Herr – – – Richemonte!“

Sie ging, an ihrer Seite die beiden Schwestern. Er war wie an die Stelle gebannt; es schien ihm unmöglich, ein Glied zu bewegen. In seinem Innern kochte es. Der Atem wollte ihm versagen. Nur mit Mühe stöhnte er vor sich hin:

„Ich ersticke! Was war das? Dieses Verhalten! Diese Worte! Diese Blicke! Was ist heute mit ihr? Sie muß eine Waffe gegen mich gefunden haben, sonst würde sie so einen Widerstand unmöglich wagen! Sie hat etwas vor! Wohin geht sie? Ich muß es erfahren!“

Er rief den Stallknecht.

„Hast du die Damen gehen sehen?“ fragte er.

„Ja.“

„Wohin haben sie sich gewendet?“

„Nach dem Wald.“

„Du schleichst ihnen nach, um zu erfahren, wohin oder zu wem sie gehen! Aber wenn du es so dumm anfängst, daß sie dich bemerken, jage ich dich zum Teufel!“

Damit wendete er sich ab und suchte sein Zimmer auf. In demselben schritt er ruhelos auf und ab. Die Minuten wurden ihm zu Ewigkeiten. Endlich kam der Knecht zurück.