„Ich werde sofort nach der Polizei schicken.“
„Tue das, trautes Giraffengerippe. Ich habe gar nichts dagegen, daß sie dich in Sicherheit bringen. Deine Stunden sind gezählt. Du pfeifst auf dem letzten Loch.“
„Spotte nur, Erbärmlicher. Sobald ich dieses Haus verlassen habe, wird man sich deiner und dieses Kräutermenschen bemächtigen. Das also ist die Gesellschaft, mit welcher die Baronesse Marion de Sainte-Marie umgeht.“
Marion antwortete kalt:
„Es fehlt noch einer, um sie vollständig zu machen. Oder sollte es nicht eher die Gesellschaft sein, mit der du selbst umgegangen bist? Wollen sehen.“
Sie öffnete abermals die Tür, und Deep-hill trat ein. Der Kapitän stieß einen unartikulierten Schrei aus. Seine Adern traten weit hervor, und seine Augen starrten gläsern auf den Amerikaner.
„Nun, kennst du ihn?“ fragte Marion.
Man hörte seine Zähne knirschen, aber sprechen konnte er nicht. Deep-hill trat auf ihn zu und sagte in höhnisch mitleidigem Ton:
„Deine Krallen sind stumpf geworden, alte Hyäne. Du wirst in deinem eigenen Bau verhungern. Du hast mich morden wollen und deshalb den Zug entgleisen lassen. Da dies nicht gelang, hast du mich in eine Falle gelockt; aber diese war nicht gut genug. Ich könnte dich den Gerichten übergeben, aber selbst dem Galgen graut vor dir, du bist so erbärmlich, daß ich dich nicht einmal verachten kann. Geh nach Hause. Kein Mensch wird dir etwas tun. Aber grüße mir den jungen Rallion. Er weiß die Hauptschlüssel, welche du verloren glaubtest, sehr gut zu gebrauchen. Du siehst, daß du von deiner eigenen Brut verraten wirst. Deine besten Verbündeten betrügen dich, obgleich du sie zum Eidam haben willst. Geh schlafen, alter Skorpion.“
Ein Wink an Fritz. Dieser trat herbei und faßte den Kapitän bei beiden Schultern. Er schob ihn zur Tür hinaus bis an die Treppe.
„So, mach dich nun fort, Kellerunke! Und sieh zu, daß du mir nicht wieder unter die Hände kommst.“
Der Alte widerstrebte nicht. Wie im Traum stieg er die Treppe hinab, und wie im Traum gelangte er auch in seinen Wagen. Eben als dieser sich in Bewegung setzen wollte, fuhr ein zweiter vorüber, in welchem ein Mann saß. Als dieser den Kapitän erblickte, ließ er halten.
„Herr Kapitän“, sagte er. „Wie gut, daß ich Sie hier sehe. Ich wollte hinaus nach Ortry zu Ihnen.“
Der Alte wendete ihm sein leichenstarres Antlitz zu. Beim Anblick dieses Mannes belebte es sich sofort. Er gewann augenblicklich die Sprache wieder:
„Herr Haller! Ah, das ist die Erlösung. Wann kamen Sie nach Thionville?“
„Vor zwei Minuten mit dem Zug.“
„Warum blieben Sie nicht in Berlin?“
„Man hat mich telegraphisch zurückgerufen.“
„Sprechen Sie leiser. Man belauscht uns wahrscheinlich. Zurückgerufen nach Paris?“
„Ja. Ich stieg hier aus, um es Ihnen zu melden. Nun habe ich nicht nötig, nach Ortry zu fahren.“
„Haben Sie etwas ausgerichtet, Graf?“
„Viel, sehr viel.“
„Mit diesem Königsau?“
„Mit seinem Vater. Er selbst war verreist, zu einem Verwandten. Aber ich habe alle seine Arbeiten und Manuskripte gelesen. Diese Preußen sind tausendmal dümmer, als ich annahm.“
„Ich weiß es.“
„Wir werden leichtes Spiel haben. Preußen ist nicht gerüstet, und Süddeutschland geht mit uns. Leben Sie wohl.“
„Wollen Sie wirklich nicht mit nach Ortry?“
„Nein. Der Zug hält eine Viertelstunde; er steht noch da, ich komme noch mit ihm fort. Baldigst mehr. Umkehren.“
Die beiden hatten so nahe nebeneinander gestanden, daß es den Sprechern leicht geworden war, das Gespräch flüsternd zu führen. Nicht einmal einer der Kutscher hatte ein Wort erlauschen können. Das Lohngeschirr des Grafen Lemarch, alias Maler Haller, lenkte um.
„Also Glück auf den Weg“, sagte der Alte noch. „Adieu, Monsieur!“
„Adieu, Herr Kapitän!“
Der eine fuhr dahin und der andere dorthin.
„Gut, gut“, brummte der Alte in sich hinein. „Die Rache beginnt bereits. Ah, ich werde mich mit wahrer Wollust in ihr wälzen.“
Droben am Fenster hatte Müller gestanden, um den Alten einsteigen und fortfahren zu sehen. Schneffke befand sich an seiner Seite. Er blickte aus dem Hinterhalt hinab.
„Sapperment! Wer ist das?“ sagte er.
„Wer?“
„Der dort in dem Wagen kommt.“
Müller bog sich ein wenig weiter vor, fuhr aber sofort wieder zurück.
„Haller.“
„Ja, Haller“, stimmte der Dicke bei. „Ich werde ihn rufen.“
Er fuhr mit dem Kopf zum Fenster hinaus, aber Müller faßte ihn und zog ihn schnell zurück.
„Um aller Welt willen, begehen Sie keine Dummheit.“
„Dummheit? Mein Freund Haller aus Stuttgart.“
„Lassen Sie sich das nicht weismachen. Er ist kein Maler, sondern Chef d'Escadron Graf Lemarch. Er ist als Spion nach Berlin gegangen.“
„Tausendschwerebrett!“
„Ja, ja, mein Bester.“
„Sie irren.“
„Nein. Er war in Ortry, ehe er nach Berlin ging und kommt jetzt wieder, um dem Alten Bericht zu erstatten. Ah, er lenkt wieder nach dem Bahnhof zu. Gut, so sind wir ihn los und brauchen nicht mit seiner Anwesenheit zu rechnen.“
Die beiden kehrten in das Hauptzimmer zurück. Marion fragte Müller:
„Haben Sie Haller gesehen, Herr Doktor?“
„Ja, gnädiges Fräulein.“
„Welche Ähnlichkeit mit Fritz.“
„Mit mir?“ fragte der Genannte.
„Ungeheuer.“
„Dann schade, daß ich nicht auch am Fenster war.“
Da steckte das Dienstmädchen den Kopf zur Tür herein.
„Herr Schneeberg, eine Depesche.“
Fritz nahm und öffnete sie.
„Ist's wichtig?“ fragte der Maler neugierig.
„Gar nicht. Der Mann konnte auch schreiben“, antwortete Fritz gleichmütig. „Jetzt meine Herren, können wir wieder auf unsere Angelegenheiten zurückkommen. Ist vielleicht noch irgend etwas aufzuklären?“
Dabei spielte er Müller die Depesche heimlich in die Hand.
„Für den Augenblick wohl nicht“, antwortete Deep-hill. „Wir haben uns nur über unsere morgige Abreise zu besprechen.“
Müller hatte einen raschen Blick auf das Papier geworfen. Es enthielt nur das eine Wort ‚Zurück‘. Das war das Zeichen, Ortry zu verlassen und in Berlin wieder einzutreffen. Er fühlte einen schmerzlichen Stich in seinem Innern, ließ sich aber nichts merken, sondern antwortete in gleichmütigem Ton:
„Wann fahren Sie?“
„Doch wohl morgen früh mit dem ersten Zug“, meinte der Amerikaner. „Wenn ich auch heute noch bleibe, so will ich doch von morgen an jede Stunde benutzen. Kinder, packt eure Sachen zusammen und kommt dann hierher. Auf dem Schloß sollt ihr keinen Augenblick mehr bleiben. Dieser alte Schurke – Verzeihung gnädiges Fräulein! Er ist Ihr Großvater; aber ich kann mir nicht helfen – er ist ein Schurke.“
„O bitte! Ich habe ihn nie als Verwandten anerkannt.“
„Das beruhigt mich. Wie gut, Herr Doktor, daß Sie uns vorher im Zimmer instruierten. Nun fällt sein Verdacht auf Ribeau und Rallion.“
„Diesen letzteren wird er sich sofort vornehmen. Aber, Herr Deep-hill, was haben Sie in Beziehung auf den Kapitän beschlossen?“
„Ich folge Ihrem Rat.“
„Ich danke Ihnen.“
Bei diesen Worten aber winkte er dem Amerikaner zu, nichts weiter zu sagen, um ihn nicht zu verraten. Marion war ja noch gar nicht eingeweiht. Darum lenkte Deep-hill ab und wendete sich an Fritz:
„Wie hübsch, Herr Schneeberg, wenn auch Sie mit nach Malineau könnten.“
Der Angeredete warf einen schnellen Blick auf seinen Vorgesetzten. Dieser antwortete an seiner Stelle:
„Vielleicht gibt ihm Herr Doktor Bertrand noch einmal Urlaub. Wenn Sie meinem Rat folgen wollen, so packen Sie ein, was Mademoiselle Nanon in Ortry hat, und schicken es nach Berlin voraus. So sind Sie von allen Weiterungen befreit. Das ist das allerbeste.“