Dies bemerkte der Alte. Er ging hinab und wartete. Draußen vor dem Tor traf Müller mit den Damen zusammen und betrat mit ihnen den Hof.
„Herr Doktor“, sagte der Alte laut. „Sie wurden gesucht.“
„Von wem?“
„Von mir.“
„Ich stehe zu Diensten.“
„Das habe ich nicht gefunden. Wenn man Sie braucht, sind Sie nicht vorhanden. Haben Sie heute Unterricht erteilt?“
„Nein“, antwortete der Gefragte, welcher sehr ruhig vor dem Frager stand.
Auch die Damen waren unwillkürlich stehengeblieben.
„Warum nicht? Weshalb sind Sie engagiert?“
„Um meinen Zögling zu erziehen. Die Erziehung aber besteht nicht im Unterricht allein. Man muß individualisieren. Ich habe es für nötig befunden, dem jungen Herrn Baron jetzt einige Ruhe zu gewähren.“
„Ihm oder Ihnen, Herr Doktor?“
„Vielleicht beiden zugleich.“
„Das kann ich nicht billigen. Ich bezahle keinen Erzieher zu dem Zweck, sich Ruhe zu gönnen. Ein anderer würde sich sein Gehalt zu verdienen suchen.“
„Meinen Sie, das dies bei mir nicht der Fall sei?“
„Durch dieses sich Ruhe gönnen, allerdings nicht. Es gibt gerade jetzt Überfluß an tüchtigen Pädagogen.“
„Dann möchte ich raten, es doch einmal mit einem anderen zu versuchen, Herr Kapitän.“
„Wir haben lange Kündigung.“
„Ich gehe auch ohne diese.“
„Wann?“
„Heute noch, wenn es Ihnen beliebt.“
„Schön! Ich werde, damit Sie nicht darunter leiden, Ihnen einen Vierteljahrsgehalt auszahlen.“
„Danke! Ich bin noch bei Kasse!“
„Wann holen Sie sich Ihre Zeugnisse?“
„Ich brauche keine. Ich bitte nur noch, meinen Koffer zu Herrn Doktor Bertrand schaffen zu lassen.“
„Wird besorgt! Also, leben Sie wohl, Herr Doktor.“
„Ebenso, Herr Kapitän.“
Der Alte hatte nicht gedacht, den unbequemen Menschen so leicht loszuwerden. Er hatte ihn vor den Damen blamiert und schritt im Bewußtsein eines Sieges stolz von dannen. Er ahnte nicht, daß sowohl Müller als auch die beiden Schwestern ihn heimlich auslachten und daß Marion auf der Freitreppe leise zu ihm sagte:
„Was haben Sie getan, Herr Doktor?“
„Einen Sieg errungen.“
„Wieso?“
„Sie werden es erfahren. Jetzt ist nicht Zeit dazu, gnädiges Fräulein.“
„Aber Sie haben nun keine Stellung.“
„Oh, eine viel, viel bessere und ehrenvollere. Ich dachte nicht, so gut von ihm loskommen zu können.“
„Aber ich –!“
„Lassen Sie mich sorgen.“
„Nun wohl! Ich möchte mich so gern auf Sie verlassen.“
„Sie können es, Sie können es, gnädiges Fräulein. Nur liegt in unserem Interesse, den Kapitän jetzt noch nicht ahnen zu lassen, daß wir Verbündete sind. Sie dürfen vollständig versichert sein, daß ich alles tun werde, was in meinen Kräften steht, Sie gegen die Intentionen Ihres Großvaters in Schutz zu nehmen.“
„Wie aber wollen Sie dies tun können, wenn Sie sich nicht mehr bei mir befinden?“
„Ich bitte Sie abermals, dies jetzt nur meine Sorge sein zu lassen. Wir können nicht weiter darüber sprechen, da wir jetzt hier bei Ihrem Zimmer angelangt sind. Es würde das auffallen, denn wir dürfen nicht vergessen, daß wir jedenfalls scharf beobachtet werden.“
Sie trennten sich, er, um seine eigenen Sachen einzupacken, und sie, um über alles nachzudenken, was sie heute erfahren und gehört hatte.
Sie schritt einsam und in Gedanken versunken in ihrem Zimmer auf und ab, wohl über eine halbe Stunde lang, dann ließ sie sich auf den Sessel nieder, welcher vor dem Tisch stand. Sie stemmte den Ellbogen auf den letzteren und legte das schöne Köpfchen in die Hand. Sie hatte eine solche Stellung eingenommen, daß sie dem Eingang, welcher nach dem Vorzimmer führte, den Rücken zukehrte.
Unterdessen hatte der Kapitän den Obersten Rallion aufgesucht, von welchem er mit Spannung erwartet wurde. Er trug einen geöffneten Brief in der Hand.
„Denken Sie, was da angekommen ist“, sagte er. „Der Brief ist bereits einige Stunden da, ohne daß ich es wußte. Man hat ihn mir während meiner Abwesenheit auf den Schreibtisch gelegt.“
„Interessiert der Inhalt auch mich?“
„Sogar sehr.“
„Von wem ist er?“
„Von Ihrem Herrn Vater.“
„Dann muß er mich allerdings sehr interessieren. Vater ist ja sonst kein Freund von Korrespondenz. Was schreibt er denn?“
„Hören Sie!“
Der Alte las:
„Mein bester Kapitän!
Die politische Konstellation ist ganz plötzlich eine solche geworden, daß ich Sie persönlich sprechen muß. Da ich aber nicht so schnell wieder nach Ortry kommen kann, so ersuche ich Sie, spätestens am Tage nach Empfang dieses mit dem ersten Frühzug nach hier abzureisen. Es hat große Eile. Ich habe fast die Gewißheit, daß das Wetter noch eher losbricht, als wir es vermuteten. Natürlich bringen Sie meinen Sohn mit. Es steht ihm die Auszeichnung bevor, zu den Gardezuaven versetzt zu werden.
Ihr Jules, Graf von Rallion.“
„Was sagen Sie dazu?“ fragte der Alte, indem er den Brief wieder zusammenfaltete und einsteckte.
„Viktoria!“
„Ja, dieses eine Wort ist das richtige und enthält alles, was gesagt werden kann. Also zu den Zuaven kommen Sie!“
„Eine große Auszeichnung!“
„Die Zuaven weniger, aber die Garde. Oberst eines Regimentes Gardezuaven. Donnerwetter, das läßt sich hören!“
„Ja“, nickte Rallion, indem sein Auge stolz aufleuchtete. „Wir haben ja nur das eine Zuavenregiment bei der kaiserlichen Garde, zwei Bataillone stark. Das ist es, was mich selbstverständlich freut. Aber das andere –!“
„Was?“
„Die schnelle Abreise.“
„Die ärgert Sie?“
„Natürlich doch.“
„Warum.“
„Hm! Marion! Haben Sie denn vergessen?“
„Pah! Bis zum ersten Zug morgen früh haben Sie mehr als genug Zeit, zum Ziel zu gelangen.“
„Ist sie bereits nach Hause?“
„Ja; ich sah sie soeben kommen.“
„Nun, wann holen wir sie?“
„Gleich jetzt. Ich habe zwei Paar Filzgaloschen draußen stehen, welche wir anziehen, um unsere Schritte unhörbar zu machen.“
„Und wenn sie um Hilfe ruft?“
Der Alte stieß ein höhnisches Lachen aus und antwortete:
„Da habe ich ein Stück alten Pelzes, welches sie schon verhindern wird, zu schreien. Ich drücke ihr dasselbe auf das Gesicht und binde es ihr fest. Zu gleicher Zeit nehmen Sie die Stricke, welche ich mitgebracht und draußen liegen habe, und fesseln ihr Hände und Füße. Sie ist ganz sicher unser, denn jetzt soll es ihr nicht einfallen, anstatt ihrer selbst die Zofe fangen zu lassen.“
„So wollen wir gehen.“
„Vorher noch eins: Ich habe mit diesem Müller gesprochen.“
„Ah, schon?“
„Ja. Ich ging ihm entgegen.“
„Sprachen Sie von seiner Entlassung?“
„Ja.“
„Ging er darauf ein?“
„Mit Vergnügen, wie es schien. Nicht einmal sein Zeugnis will er haben.“
„Der Unvorsichtige. Wie kann er eine weitere Stelle finden, ohne nachzuweisen, daß Sie mit ihm zufrieden gewesen sind?“
„Er mag zusehen, wer ihn engagiert. Ich bot ihm das Gehalt eines Vierteljahres als Entschädigung an, aber er nahm auch dieses nicht an.“
„Nicht? Warum nicht?“
„Weiß ich es? Er sagte, er sei noch bei Kasse.“
„Warum aber boten Sie ihm diese Entschädigung an?“