„Weil er von einer Kündigung absah.“
„Ah! So geht er bereits am Schluß des Monates?“
„O nein, noch besser! Er geht sofort.“
„Heute schon?“
„Nicht nur heute, sondern sofort. Er wird einpacken und dann gehen.“
„Dem Himmel sei Dank! Sind wir diesen arroganten Menschen los! Ich habe ihm nicht getraut.“
„Er war ein verschlossener, undurchdringlicher Charakter, aber trotzdem und trotz seines Buckels doch ein tüchtiger Kerl. Aber, halten wir uns mit ihm nicht auf! Wir haben mehr zu tun. Kommen Sie! Aber schließen Sie vorher den Eingang. Man muß vorsichtig sein.“
„Haben Sie Laternen mit?“
„Das versteht sich ganz von selbst. Laternen und auch alles andere, was wir brauchen.“
Rallion verschloß seine Tür, und dann krochen sie durch das geöffnete Täfelwerk. Draußen zogen sie die Filzschuhe über ihre Stiefel, nahmen die anderen Requisiten an sich und schlichen sich dann zu derjenigen Stelle, an welcher man in Marions Vorzimmer gelangte.
Sie lauschten. Es ließen sich regelmäßige, durch die Entfernung gedämpfte Schritte hören.
„Sie scheint im Zimmer auf und ab zu gehen“, meinte Rallion.
„Ja. Wir müssen also warten.“
Sie warteten eine kurze Weile, dann waren die Schritte nicht mehr zu hören.
„Jetzt“, raunte der Alte seinem Spießgesellen zu. „Aber vorsichtig. Unsere Schritte müssen unhörbar sein. Haben Sie die Stricke bereit?“
„Ja.“
„Sie wird sich natürlich sträuben. Seien Sie nicht so zart mit ihr. Je fester wir zugreifen, desto eher und besser werden wir mit ihr fertig.“
Ein leises Rascheln ließ sich hören, so leise, daß selbst Rallion es kaum zu vernehmen vermochte. Der Alte öffnete das Täfelwerk. Sie blieben einige Augenblicke horchend stehen, und da sich nichts im Zimmer regte, so waren sie überzeugt, nicht gehört worden zu sein.
„Jetzt vorwärts!“ befahl der Kapitän.
„Lassen wir hier offen?“
„Ganz natürlich!“
Sie traten in das Vorzimmer. Es befand sich niemand da. Sie schlichen zu den Portieren und blickten hindurch. Marion saß in der bereits beschriebenen Stellung am Tisch.
Der Alte nickte dem Grafen aufmunternd zu, schob die Portieren zur Seite und trat ein, in den beiden Händen das Pelzstück haltend. Rallion folgte ihm mit den Stricken.
Der Kapitän machte zwei rasche Schritte vorwärts – ein unterdrückter Schrei erscholl oder vielmehr, er wollte erschallen, aber der Alte hielt dem Mädchen den Pelz so fest auf den Mund, daß es nicht laut schreien konnte. Und zugleich schlang Rallion ihm die Stricke um die Arme, mit denen es alle Anstrengung machte, den Kapitän von sich abzuwehren: dann wurden ihm auch die Füße gefesselt – es war gefangen.
„So!“ knurrte Richemonte vergnügt. „Diesmal ist das Täubchen eingefangen. Sie soll uns nicht wieder das Zöfchen in die Hände schieben. Schnell fort mit ihr.“
Sie faßten sie, die nicht im geringsten zu widerstehen vermochte, an und trugen sie hinaus. Dann schob der Alte die Täfelung wieder zu und verriegelte sie.
„Wohin nun?“ fragte Rallion.
„Zunächst hinunter in den Gang, gerade wie bei der Zofe. Hier stehen die Laternen. Brennen wir sie an.“
Rallion fühlte der Gefangenen nach dem Kopf und fragte:
„Haben Sie den Pelz nicht zu fest gebunden?“
„Nein.“
„Mir scheint es doch so. Wenn sie nun erstickt.“
„Pah! Solche Katzen ersticken nicht. Hier, hängen Sie sich die Laterne ins Knopfloch. Und dann hinunter.“
Sie trugen Marion bis zur Tür desjenigen Gewölbes, in dessen hinterem Teil die Zofe eingeschlossen worden war. Da hier der Kapitän seine Last niederlegte, fragte Rallion:
„Hier hinein?“
„O nein. Hier wäre sie nicht sicher aufgehoben, denn von da ist mir einer entkommen, ohne daß ich es mir erklären kann. Ich will einmal nachsehen, ob es mir vielleicht möglich ist, eine Spur zu entdecken. Bleiben Sie hier zurück, um über die Gefangene zu wachen.“
Er öffnete die Tür und trat in das Gewölbe, aus welchem er erst nach längerer Zeit zurückkehrte. Seine Miene war eine höchst verdrießliche.
„Etwas gefunden?“ fragte Rallion.
„Nein. Nicht eine Spur.“
„Sonderbar. Wenn einer entkommen ist, muß doch die Tür offen sein.“
„Sie haben gesehen, daß diese hier verschlossen war, und die hintere war es ebenso. Ich begreife das nicht!“
„Es muß jemand den Schlüssel haben.“
„Ganz sicher!“
„Aber wer?“
„Das werde ich schon noch herausbekommen. Fassen Sie wieder an. Wir gehen weiter.“
Sie trugen Marion bis an den Kreuzungspunkt der Gänge und lenkten dann rechts ein. An der Tür, durch welche der dicke Maler geführt worden war, blieben sie halten, um ihre Last niederzulegen.
„Nun sehen Sie“, meinte der Alte, „auch hier ist mir einer entkommen, sogar durch drei verschlossene Türen. Ich werde einmal vorangehen.“
Er öffnete die Tür und verschwand hinter ihr. Es dauerte eine geraume Zeit, ehe er wieder erschien. Er sagte in zornigem Ton:
„Man ist versucht, an Zauberei zu glauben. Auch hier ist der Gefangene verschwunden, ohne die geringste Spur zurückzulassen, aus welcher man schließen könnte, auf welche Art und Weise er entkommen ist.“
„Waren denn die Türen auch hier verschlossen?“
„Alle drei.“
„Ohne eine Spur von Verletzung zu zeigen?“
„Nicht die leiseste Spur.“
„So bleibt es dabei: Es besitzt jemand die Schlüssel. Wohin tragen wir Marion jetzt?“
„Hier herein.“
„Was? Hier herein? Von wo soeben einer entkommen ist?“
„Ja. Aber haben Sie keine Sorge! Die hier entkommt mir nicht. Vorwärts!“
Das gefesselte Mädchen wurde nach dem runden Raum geschafft, in welchem Schneffke gesteckt hatte. Dort legten sie es auf den Boden nieder.
„Sehen Sie, hier war der Gefangene eingeschlossen, und – fort ist er!“ sagte der Kapitän.
„Und Sie haben ihn bereits wiedergesehen?“
„Ja, bei Doktor Bertrand.“
„So kennt der Mensch, welcher die Schlüssel besitzt, auch die betreffenden Ausgänge.“
„Wenigstens einen derselben.“
„Dann ist es wirklich höchst nötig, zu erfahren, wer er ist. Aber was soll dieses Loch? Ist es ein Brunnen?“
„Scheinbar.“
„Also kein Wasser drin?“
„Zuweilen. Es ist der Eingang zu denjenigen Räumen, in welche mir sicherlich kein Unberufener gelangen wird.“
„Gehen denn Stufen hinab?“
„Nein.“
„Eine Leiter?“
„Auch nicht.“
„Donnerwetter! Wie gelangen wir denn da hinab?“
„Ja, das ist ein Rätsel!“ lachte der Alte. „Der dicke Kerl, welcher hier steckte, und derjenige, der ihn befreit hat, sie beide haben jedenfalls auch untersucht, ob da hinabzukommen sei. Sie werden mit der Hand hinabgegriffen haben, um nach Stufen zu suchen, haben aber nichts gefunden. Ich bin überzeugt, daß sie meinen, es wirklich mit einem Brunnen zu tun gehabt zu haben. Es sind Eisenstangen eingefügt, die oberste allerdings so tief, daß man sie nicht mit der Hand erreichen kann.“
„Mittels dieser Stange steigt man hinab?“
„Ja.“
„Auch wir jetzt mit Marion?“
„Natürlich. Auf der halben Tiefe halten wir an. Dort öffnet sich ein Gang, welchen wir passieren müssen. Ich steige voran und halte Marion, welche Sie an einem Strick herablassen. Dann folgen Sie.“
Marion erhielt einen Strick unter den Armen hindurch und wurde an demselben herabgelassen. Rallion stieg dann nach und trat in den neuen Gang, in welchem der Alte bereits seiner wartete. Sie trugen ihre Last den Gang entlang, stiegen mehrere Stufen empor und kamen dann an eine Stelle, wo es merklich heller wurde.