„Wir kommen wohl gar ins Freie?“
„Bewahre. Wir befinden uns zwar wieder in gleicher Höhe mit den Gewölben, aber ins Freie führt dieser Gang doch nicht. Der Schimmer kommt von oben herab.“
„Wohl gar ein Fenster?“
„Nein. Ein Luftloch, weiter nichts.“
„Wohin mündet es denn?“
„In den Wald.“
„Wenn es nun entdeckt wird?“
„Das ist nicht möglich.“
„Wie nun, wenn einer in dieses Loch stürzt.“
„Das ist nicht denkbar. Das Loch ist mit Moos verschlossen, welches zwar die Luft hindurchläßt, aber keinen Menschen, da es auf festen Holzprügeln ruht. Doch wollen wir uns dabei nicht aufhalten. Vorwärts wieder.“
„Noch weit?“
„Nein. Sehen Sie die Türen rechts und links?“
„Ja.“
„Rechts die fünfte ist es.“
Sie schritten weiter und entfernten sich so von dem Loch. Als sie die betreffende Tür erreichten, öffnete der alte Kapitän. Es gähnte ihnen ein finsteres Loch entgegen. Auf dem Boden lag Stroh. Sonst war nichts, gar nichts vorhanden. In dieses Loch wurde Marion gelegt.
„Ob sie noch lebt?“ fragte Rallion, der bei seiner Liebe für das schöne Mädchen sich doch beunruhigt fühlte.
„Wie sollte sie gestorben sein! Machen Sie den Pelz auf.“
Rallion kniete nieder und entfernte das Pelzwerk vom Gesicht, welches er mit der Laterne beleuchtete.
„Alle Teufel!“ rief er. „Sie ist tot!“
„Unsinn!“
„Sehen Sie her!“
Marions Augen waren geschlossen; ihr Gesicht hatte allerdings die Blässe des Todes. Der Alte bückte sich nieder und befühlte die gefesselte Hand.
„Pah!“ sagte er. „Haben Sie keine Sorge! Sie ist ohnmächtig, aber nicht tot.“
„Wirklich?“
„Ja; ihr Puls geht doch.“
„Gott sei Dank!“
„Na, verliebt scheinen Sie wirklich zu sein!“ höhnte er. „Soll ich Sie mit der Angebeteten allein lassen?“
„Hm! Was soll ich hier?“
„Narr! Die Zeit benutzen! Sie ist gefesselt; sie befindet sich ja in Ihren Händen.“
„Wohin gehen Sie?“
„Zurück, um Lebensmittel zu holen.“
„Für Marion?“
„Für sie und für andere. Sie wird nämlich nicht meine einzige Kostgängerin sein. Ich habe noch zwei andere Personen zu versorgen, und da ich nach Paris muß und nicht weiß, wann ich wiederkomme, will ich sie mit hinreichendem Wasser und Brot versehen.“
„Sie kommen aber doch wieder?“
„Natürlich.“
„Wann?“
„In vielleicht einer Stunde.“
„So spät?“
„Sie haben ja den Weg selbst mitgemacht. Und zudem habe ich das Wasser und das Brot zu schleppen. Dieses letztere kann ich mir nur heimlich nehmen, wenn niemand sich im Speisegewölbe befindet. Darum ist es möglich, daß ich erst in einigen Stunden zurückkehren kann.“
„Donnerwetter!“ fuhr Rallion auf.
„Was?“
„Ich hoffe doch nicht –“
„Was hoffen Sie nicht?“
„Daß Sie mich hier sitzen lassen werden.“
„Sind Sie verrückt!“
„Nein, das nicht; aber –“
„Was aber –“
„Sie scheinen hier ziemlich viele Gemächer zu haben, welche für unfreiwillige – Sommerfrischler bestimmt sind –“
„Und Sie meinen –“
„Wie nun, wenn Sie bei der Verwundung, welche ich in dem verdammten, alten Kloster erhalten habe, für mich auch eine solche Erholung, eine solche Sommerfrische für nötig hielten!“
„Ich frage noch einmal, ob Sie verrückt sind.“
„Das nicht, aber vorsichtig bin ich.“
„Ich werde Sie doch nicht hier zurückhalten.“
„Nicht? Werden Sie mich mit Marion hier einschließen?“
„Nein. Die Tür bleibt offen, bis ich zurückkehre, vorausgesetzt, daß Sie das Mädchen nicht entfesseln. Wie können Sie auf den ganz und gar hirnverbrannten Gedanken kommen, daß ich Sie feindlich behandle, da wir doch morgen miteinander verreisen.“
„Hm! Sie sind allen denen, welche Ihnen unbequem werden, ein gefährlicher Mann, und ich weiß doch nicht recht genau, ob ich Ihnen bequem bin.“
„Lassen Sie diese albernen Gedanken. Sie sollen ja mein Schwiegersohn werden! Würde ich Sie so vertrauensvoll in diese unterirdischen Gänge einführen, würde ich Ihnen meine Enkelin in dieser Weise widerstandslos in die Hände liefern, wenn ich Ihnen feindselig gesinnt wäre! Ja, ich will Ihnen noch einen großen Beweis meines Vertrauens geben, indem ich Ihnen den einzigen Gefangenen zeige, welcher sich noch hier unten befindet. Kommen Sie!“
„Wer ist der Mann?“
„Ein Deutscher. Er kam, um eine Kriegskasse auszugraben, welche den Franzosen gehört. Ich habe ihn daran gehindert, indem ich mit ihm kämpfte und ihn dann heimlich als Gefangenen nach Ortry schaffte.“
„Wie heißt er?“
„Er ist ein Königsau, ein Angehöriger einer Familie, welche ich hasse, wie ich niemand weiter gehaßt habe.“
Er ging nun einige Türen weiter und öffnete eine derselben. Ein fürchterlicher Gestank quoll ihnen entgegen. Als der Alte in das Loch leuchtete, sah Rallion, daß dasselbe fußhoch mit mistigem Stroh und Menschenkot angefüllt war. Es hatte ganz das Aussehen einer Düngergrube. Und da lag ein Mensch, zusammengeringelt wie ein Hund, mit Fetzen auf dem Leib, welche kaum noch Fetzen genannt werden konnten.
„Das ist er!“ sagte der Alte, in dessen Gesicht es wie eine teuflische Freude leuchtete.
„Einer dieser verdammten Deutschen!“ meinte Rallion. „Ah, ihnen gehört nichts anderes. Möchten sie alle so verfaulen wie dieser eine hier!“
„Ja, er verfault; er verfault bei lebendigem Leib. Ich räche an ihm, was ich an seiner Familie nicht mehr rächen kann. Er weiß, wo die Kasse vergraben liegt; er soll es mir sagen, und er tut es nicht. Er bleibt so lange hier, bis er es gesteht, und dann – – –“
Er hielt inne.
„Und dann?“ fragte Rallion.
„Dann muß er dennoch sterben!“ flüsterte ihm der Alte zu, damit der Gefangene es nicht hören solle.
Und lauter fügte er hinzu:
„Steh auf. Laß dich sehen, Hund!“
Der Gefangene bewegte sich nicht. Da griff der Kapitän an die Mauer. Dort hing eine Peitsche am Nagel. Er nahm sie herab und schlug damit auf den Unglücklichen los, bis dieser sich langsam und mühsam erhob.
Er war an Ketten gefesselt, so daß er sich kaum drei Fuß weit bewegen konnte. Sein langes graues Haar hing ihm bis auf die Hälfte des Rückens herab, und sein ebenso langer und ebenso grauer Bart berührte mit seiner Spitze beinahe das Knie. Die Wangen waren eingefallen, und die Augen lagen tief. Bart und Haar waren mit Kot besudelt.
„Hast du Hunger, Königsau?“ fragte der Alte.
Der Gefragte antwortete nicht. Da gab ihm der Kapitän einen Hieb mit der Peitsche und wiederholte:
„Ob du Hunger hast, frage ich.“
„Nein“, erklang es matt und hohl.
„Durst?“
„Nein.“
„Willst du frei sein?“
„Nein.“
„Sterben?“
„Nein.“
„Hund! Sage die Wahrheit, sonst bekommst du die Peitsche wieder. Willst du frei sein?“
„Durch dich nicht!“
„Ah! Durch wen denn?“
„Die Meinigen werden kommen und mich holen.“
Da schlug der Alte eine heisere, höhnende Lache an und sagte:
„Wenn sie kommen, so stecke ich sie zu dir. Ich würde deine ganze Brut ausrotten, wenn sie sich zu mir wagte!“
Er hing die Peitsche wieder an die Wand und schloß die Tür zu.
„Das ist Rache!“ sagte er. „Die Peitsche hängt drin bei ihm, und er kann dieses Folterwerkzeug nicht vernichten. Die Schlüssel zu seinen Fesseln hängen an demselben Nagel, und er kann nicht zu ihnen, eben weil er gefesselt ist.“