„Jetzt?“
„Herr Doktor, warten Sie noch.“
„Nein, nein.“
„Nur bis sie wieder fort sind.“
„Fällt mir nicht ein. Wer weiß, was unterdessen geschehen ist.“
„Sie werden sie einfach einschließen und sich dann wieder entfernen. Nachher können wir in Gemütlichkeit und ohne alle Gefahr hinab, um sie zu befreien.“
„Nein, ich klimme jetzt am Seil hinunter!“
„Aber man wird Sie sehen.“
„Ich glaube nicht. Sagte der Alte nicht, daß es die fünfte Tür sei?“
„Ja.“
„Nun, ich war bereits unten und habe bemerkt, daß die Türen in einer Entfernung von ungefähr zwanzig Schritten voneinander angebracht sind. Das gibt über hundert Schritte, eine Entfernung, welche mir vollständig genügt. Sie können mich gar nicht bemerken.“
„Es ist dennoch gefährlich. Darf ich mit?“
„Nein. Du mußt hier bleiben, ich komme mit deiner Hilfe viel rascher hinab und herauf. Du wirst schon merken, wenn ich wiederkomme. Das andere Ende des Seiles behältst du in der Hand. Greift jemand daran, und es ist unten dunkel, so bin ich es. Siehst du aber den Lichtschein wieder kommen, so ziehst du es schnell herauf, damit man es nicht bemerkt. Also rasch!“
„Ihre Revolver sind doch geladen?“
„Ja.“
„Gut. Wenn Sie schießen, komme ich hinab, und dann soll der Teufel diese verdammten Schufte bei den Haaren holen. Also Vorsicht.“
Er sagte diese letzten Worte, weil sein Herr bereits am Seil hing und schnell unter dem Moose verschwand.
Müller faßte festen Boden und blickte sich um; weit, weit hinten sah er den Lichtschein. Er schlüpfte darauf zu, bis er die erste Tür erreichte. Als vorsichtiger Mann zog er den Schlüssel und steckte ihn in das Schloß. Er paßte, und das beruhigte ihn.
Nun schlich er leise und vorsichtig weiter. Es gelang ihm, so nahe zu kommen, daß er nicht nur alles sehen, sondern sogar einiges verstehen konnte.
„Darum ist es möglich, daß ich erst in einigen Stunden zurückkehren kann“, sagte eben der Alte.
„Donnerwetter!“ fluchte Rallion.
„Was?“
„Ich hoffe doch nicht!“
„Was hoffen Sie nicht?“
Das Folgende wurde so schnell und in eigentümlichem Tonfall gesprochen, daß es nur als Gemurmel an Müllers Ohr drang. Sodann hörte er Rallion fragen:
„Wer ist der Mann?“
„Ein Deutscher. Er kam, um die Kriegskasse auszugraben. Ich habe ihn daran gehindert – – –“
„Wie heißt er?“
Die Antwort verstand Müller nicht.
Die beiden Schurken gingen einige Türen weiter und blieben dann vor einer stehen, welche der Kapitän öffnete. Müller schlich sich nach, bis er vor derjenigen stand, an welcher sich die beiden vorher befunden hatten. Er konnte nun nicht weiter, da Rallion in dieser Zeit seine Laterne stehen gelassen hatte. Wäre er in den Schein derselben getreten, so hätte er bemerkt werden müssen. Er horchte um so schärfer hin und hörte den Alten sagen:
„Das ist er!“
„Einer dieser verdammten Deutschen! – – –“
„Ja, er verfault; er verfault bei lebendigem Leib!“
Das andere blieb unverständlich, bis der Alte mit lauter Stimme befahclass="underline"
„Steh auf! Laß dich sehen, Hund!“
Nun trat der Kapitän in die Zelle. Was er hier tat und sprach, das konnte Müller nicht sehen und nicht hören. Und das war ein Glück. Hätte er bemerkt, daß der Insasse des Lochs geschlagen wurde, so hätte er sich auf Rallion und Richemonte gestürzt und beide erwürgt.
Er sagte sich, daß seine Ahnung ihn nicht getäuscht habe, daß der, bei dem sich jetzt die beiden befanden, sein Vater sei. Sein Herz bebte vor Wonne, Verlangen, Zorn und Grimm; aber er beherrschte sich. Er mußte ruhig bleiben und seine ganze Besonnenheit zu wahren suchen.
Endlich verschloß der Alte die Tür. Müller hörte ihn sagen:
„Das ist Rache – – – und die Schlüssel zu seinen Fesseln hängen an demselben Nagel, und er kann nicht zu ihnen, eben weil er gefesselt ist!“
Rallion murmelte eine Antwort, welche Müller nicht verstand; der Kapitän antwortete etwas darauf, und dann sagte Rallion:
„Ihr – – – Neffe?“
„Ja. Vielleicht erzähle ich Ihnen – – –“
Müller konnte nichts weiter verstehen, weil er sich zurückziehen mußte, da die beiden wieder zurückkamen. Dabei aber vernahm er doch wieder des Alten Worte:
„Haben Sie nun Vertrauen zu mir?“
„Ja.“
„Sie glauben, daß ich wiederkomme und Sie abhole?“
„Sicher!“
„Gut. So bekämpfen Sie einstweilen diese spröde Unschuld da drin. Ich wünsche, daß Sie Sieger sind, wenn ich zurückkehre.“
Jetzt sah Müller, daß der Kapitän sich entfernen wollte. Darum mußte er fort. Auf den Zehen gehend, lief er beinahe Trab, denn er mußte bereits in Sicherheit sein, wenn der Alte unter dem Luftloch ankam.
Er erreichte dasselbe. Der Strick hing noch. Er ergriff denselben, turnte rasch empor und fühlte dabei, daß Fritz das Ende an sich zog. Oben angekommen, das auseinandergerissene Moos zusammenstreichen und sich niederlegen, was das Werk eines Augenblicks.
„Haben Sie etwas gesehen?“ flüsterte Fritz.
„Pst! Man kommt!“
Sie sahen nun beim Schein seiner Laterne den Alten unten passieren.
„Der Kapitän allein?“ fragte Fritz.
„Ja. Ich hatte mich sehr zu beeilen, um von ihm nicht erwischt zu werden.“
„Wo ist Rallion geblieben?“
„In der fünften Zelle. Er soll da eine Spröde besiegen.“
„Donnerwetter! Wenn das Marion ist.“
„Wahrscheinlich ist sie es. Wir müssen sofort hinab.“
„Ich mit.“
„Ja. Übrigens ist mein Vater unten.“
„Herr des Himmels! Haben Sie ihn gesehen?“
„Nein. Aber ich kann dir jetzt nichts weiter sagen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wer weiß, was dieser Schuft mit Marion vor hat. Ich gehe voran und du kommst sofort nach.“
„Aber wenn der Alte zurückkehrt, befinden wir uns zwischen zwei Feuern.“
„Er wird erst nach einigen Stunden kommen, wie ich gehört habe. So lange sind wir sicher. Komm!“
Er griff sich an dem Seil hinunter, und einen Augenblick später stand Fritz neben ihm.
Sie sahen den Schein von Rallions Laterne aus der offenen Kerkertür dringen und schlichen sich leise hinzu.
„Ich höre sprechen!“ sagte Fritz.
„Ich auch. Wollen den Kerl erst belauschen.“
Marion war nämlich aus ihrer Ohnmacht erwacht, und Rallion sprach mit ihr. Die beiden Deutschen kamen unbemerkt bis an die offene Zellentür und blieben da stehen. Müller streckte den Kopf ein wenig vor und sah Marion, an Händen und Füßen gefesselt auf dem Stroh liegen. Rallion kniete neben ihr und sagte eben jetzt:
„Wie, Sie könnten mich wirklich nicht lieben?“
„Ich verachte Sie“, antwortete sie.
„Oh, ich heirate Sie trotz dieser Verachtung.“
„Elender! Geben Sie mir die Hände frei, und ich werde Ihnen zeigen, was Ihnen gehört.“
„Die Hände freigeben? Fällt mir nicht ein.“
„Feigling.“
„Ja, ich springe eines schönen Mädchens wegen nicht in die Mosel, wie Ihr buckeliger Schulmeister; ich weiß mir die Schönheit auf andere Weise untertänig zu machen. Ich frage Sie zum letztenmal, ob Sie meine Frau werden wollen.“
„Nie.“
„Und dennoch werden Sie es.“
„Niemals.“
„Ah, ziehen Sie vielleicht vor, meine Geliebte zu sein?“
„Eher würde ich sterben.“
„Wie wollen Sie sterben? Wollen Sie sich erschießen, ersäufen, vergiften? Sie sind ja gefesselt.“
„Ich werde diese Fesseln nicht immer tragen.“
„Allerdings ist das wahrscheinlich; aber bis dahin sind Sie mein Eigentum geworden. Bis der Kapitän zurückkehrt, habe ich Ihren Widerstand gebrochen. So ist es zwischen uns verabredet worden.“