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Jetzt legte Müller sich auf den Boden und kroch näher. Der Franzose kniete so, daß er dem Eingang den Rücken zukehrte; er konnte den Deutschen nicht sehen. Auch Marion sah ihn nicht, da Rallion sich zwischen ihnen befand.

„Ungeheuer!“ antwortete sie voller Abscheu.

Er streckte die Arme nach ihr aus, um sie zu umfassen. Sie schnellte sich trotz ihrer Fesseln zur Seite.

Angst und Abscheu zuckten über ihr schönes Gesicht; aber – was war das? Plötzlich leuchteten ihre Augen auf. Sie warf einen triumphierenden Blick auf Rallion und sagte:

„Rühre mich nicht an, Elender, sonst bis du verloren.“

Da sie eine andere Stellung eingenommen hatte, war ihr Blick auf Müller gefallen, welchen jetzt das Licht traf.

Rallion lachte laut und fragte:

„Ich, verloren? Was willst du mir tun? Du entschlüpfst mir nicht. Komm her. Ich will Liebe und Seligkeit von deinen süßen Lippen trinken.“

Es gelang ihm, sie zu fassen, aber in demselben Augenblick legte ihm Müller seine Linke von hinten um den Hals und schlug ihn mit der geballten Rechten so an die Schläfe, daß er sofort zusammenbrach.

„Ist es so recht, gnädiges Fräulein?“ fragte er dann lächelnd.

Ihr Auge ruhte mit einem Strahl auf ihm, der ihm bis ins tiefe Herz drang.

„Zur rechten Zeit!“ sagte sie. „Im letzten, allerletzten Augenblick!“

„Aber doch nicht zu spät. Bitte, geben Sie her!“

Er zog sein Messer und ergriff ihre Hände, um diese von den Fesseln zu befreien. Da aber erklang es hinter ihm:

„Nicht schneiden. Nicht schneiden, Herr Doktor!“

„Noch jemand hier?“ fragte Marion überrascht.

„Nur ich, Mademoiselle!“ antwortete Fritz, indem er aus dem Dunkel nähertrat.

„Monsieur Schneeberg! Wenn es eine Heldentat gibt, sind Sie doch stets dabei.“

„Oh, hier handelt es sich um kein großes Heldentum!“

„Aber warum mit die Fesseln nicht abnehmen? Soll ich gebunden bleiben?“

„Nein. Nur nicht zerschneiden soll der Herr Doktor die Stricke.“

„Warum?“

„Sie müssen ganz bleiben, weil wir diesen braven Rallion damit binden müssen.“

„Ach so! Soll das wirklich geschehen, Herr Doktor?“

„Fritz hat recht“, antwortete Müller. „Wir müssen diesen Menschen wenigstens für so lange unschädlich machen, als wir uns hier befinden.“

Er begann also die Knoten der Stricke zu lösen und erkundigte sich dabei:

„Aber wie sind Sie in die Hände dieser beiden Elenden gefallen, jetzt, am hellen Tag?“

Sie erzählte es und fragte dann:

„Und wie konnten Sie wissen, daß ich mich in dieser schrecklichen Gefahr befand?“

„Davon nachher. So, jetzt sind Sie frei. Bitte, treten Sie hinaus in den Gang, während wir Rallion binden.“

Sie berücksichtigte diese Bitte. Rallion, welcher noch ohne Bewußtsein war, wurde gefesselt, wie vorher Marion es gewesen war; dann schloß Müller ihn ein, ließ ihm aber die brennende Laterne in der Zelle.

„Was nun?“ fragte jetzt Fritz. „Sie sagten doch vorhin, daß auch Ihr – – –“

Müller warf ihm einen warnenden Blick zu und fiel ihm dabei in die Rede:

„Behalten wir unsere Besonnenheit! Vor allen Dingen muß ich wissen, wie dieser Gang mit den übrigen Gängen in Verbindung steht. Sehen konnten Sie nichts, gnädiges Fräulein?“

„Nein.“

„Aber hören?“

„Vieles habe ich nicht vernommen. Ich bekam fast gar keinen Atem; es rauschte mir in den Ohren, und dann verlor ich die Besinnung. Als ich erwachte, befand sich dieser entsetzliche Rallion bei mir.“

„Darf ich nicht das wenige wissen, was Sie hörten?“

„Man hatte mich auf kalte, feuchte Steine gelegt und da sprachen sie von einem Brunnen.“

„Ah!“

„Von da, wo sie sich befanden, war, wie der Kapitän sagte, ein Gefangener entkommen, den er dann bei Bertrand wieder gesehen hat.“

„Das ist der Maler gewesen.“

„Der Brunnen war nur scheinbar ein Brunnen.“

„Ich war dort; ich habe ihn gesehen.“

„Ich auch“, fügte Fritz hinzu. „Was soll es denn sein, wenn es kein Brunnen ist?“

„Ein Eingang. Es sind Eisenstangen eingefügt, auf welche man treten kann.“

„Dann muß aber die oberste dieser Stangen so tief unten sein, daß man sie mit der Hand nicht erreichen kann.“

„Das eben sagte der Kapitän.“

„Hat man Sie da hinabgetragen?“

„Die beiden stiegen hinunter; ich wurde an einem Strick hinabgelassen.“

„Wohin ging es dann?“

„Ich hörte sagen, daß in halber Tiefe des Brunnens sich ein Gang öffne. Dahinein wird man mich gebracht haben, wie ich vermute.“

„Aber dieser liegt in gleichem Niveau mit den anderen –“

„Ich habe gefühlt, daß ich eine Reihe von Stufen emporgetragen wurde.“

„Ah so! Hörten Sie vielleicht Türen öffnen?“

„Nein.“

„Schön, das genügt! Wir beide, gnädiges Fräulein, werden auf diesem Weg zurückkehren.“

„Wohin?“

Und ehe Müller noch antworten konnte, fiel Fritz ein:

„Aber warum denn nicht zu unserem Loch hinauf, Herr Doktor?“

„Ich habe meine Absicht. Da hinauf wirst du mit dem anderen Gefangenen müssen.“

„Noch ein Gefangener?“ fragte Marion.

„Leider, ja!“

„Natürlich befreien wir ihn?“

„Selbstverständlich!“

„Wo befindet er sich?“

„Gar nicht so weit von hier. Bitte, wollen Sie hier warten?“

„Warum soll ich nicht mit?“

„Der Anblick der Zelle und des Gefangenen ist zu gräßlich für Sie.“

„Alles, was Sie tun, Herr Doktor, ist wohlüberlegt und gut, ich muß Ihnen gehorchen. Aber hier diese Finsternis!“

„Wir werden Ihnen eine der Laternen zurücklassen.“

„Aber bleiben Sie nicht lange!“

Die beiden schritten weiter in den Gang hinein.

„Warum darf sie nicht mit?“ fragte Fritz leise.

„Weil ich um dich besorgt war.“

„Um mich?“

„Ja. Hättest du nicht vorhin beinahe alles verraten?“

„Verzeihung, Herr Doktor!“

„Von meinem Vater zu sprechen!“

„Aber es muß doch herauskommen!“

„Doch jetzt noch nicht.“

„Ich denke dennoch. Wenn wir ihn hin zu ihr bringen.“

„Wieso denn?“

„Nun, er wird Sie doch seinen Sohn nennen!“

„Ich sage ihm gar nicht, daß ich sein Sohn bin.“

„Herr Doktor, bringen Sie das übers Herz?“

„Es muß sein. Ich habe mit Schmerzen nach ihm gesucht und jetzt, da ich ihn finde, will mir das Herz vor Wonne zerspringen; trotzdem muß ich schweigen.“

„Ich sehe doch keinen Grund!“

„Es gibt sogar mehrere. Zunächst soll Marion noch nicht wissen, wer und was ich bin, und sodann muß ich den Vater schonen. Er ist kaum noch lebendig zu nennen. Der Gedanke, frei zu sein, wird ihn überwältigen. Hört er, daß ich sein Sohn bin, so kann ihn die Freude geradezu töten. Man darf ihm das Glück nur nach und nach beibringen. Das klingt beinahe herzlos, aber du kennst mich; du weißt, daß ich ein Herz habe.“

„Oh, Herr Doktor, was das betrifft, so ist – – – ah, das Licht nähert sich, Mademoiselle kommt also!“

Es war so; Marion kam ihnen nach.

„Zürnen Sie nicht!“ bat sie. „Ich war allein, und Sie standen beratend beieinander, ich glaubte, es gebe irgendeine Gefahr.“

„Es gibt keine“, beruhigt sie Müller. „Aber, da Sie nun hier sind, so sollen Sie auch bleiben. Doch müssen Sie sich auf Schreckliches gefaßt machen.“

„Schrecklicher kann es nicht sein, als die Einsamkeit in diesen Gängen!“