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Müller zog den Schlüssel und öffnete. Er holte tief, tief Atem. Er mußte seine ganze Selbstbeherrschung zusammennehmen, um nicht unter lautem Schluchzen sich dem Vater zu erkennen zu geben.

Der Gefangene bewegte sich nicht, als der Schein des Lichtes abermals in seine Zelle drang. Aber bei dem Anblick dieses Elendes stieß Marion einen lauten Schrei des Entsetzens aus.

„Vater im Himmel!“ sagte sie. „Liegt hier ein Mensch?“

„Leider!“ stieß Müller hervor, indem er die Zähne zusammenbiß.

Bei dem Klang der weiblichen Stimme hob der Gefangene den Kopf.

„Ein Weib! Wahrhaftig, ein Weib!“ stammelte er. „Was willst du von mir?“

Sie trat trotz des entsetzlichen Gestankes näher und sagte:

„Ich bringe Ihnen die Freiheit.“

„Die Freiheit? Oh, welcher Hohn!“

„Es ist kein Hohn; es ist die Wahrheit.“

Er richtete sich weiter auf und fragte mit zitternder Stimme:

„Weib, Mädchen, betrüge mich nicht!“

Müllers Stimme zitterte nicht weniger, als er bestätigte:

„Man betrügt Sie nicht; es ist die Wahrheit.“

Er hatte diese Worte in deutscher Sprache gesprochen. Darum fuhr der Gefangene auf:

„Was höre ich? Man spricht deutsch? Deutsch, deutsch! Mein Gott, wie lange habe ich diese Klänge nicht gehört!“

Und laut weinend brach er wieder zusammen.

Marion weinte mit. Fritz schluchzte, und Müller preßte wohl die Zähne zusammen, aber die Tränen flossen ihm doch über die Wangen herab.

„Haben Sie nicht vorhin dem Kapitän gesagt, daß Deutsche kommen würden, um Ihnen die Freiheit zu bringen?“ stieß er dann hervor.

„Ja, das sagte ich. Haben Sie es gehört?“

„Ich stand in der Nähe und lauschte. Wo hängen die Schlüssel zu Ihren Fesseln?“

„Dort, unter der Peitsche.“

Erst jetzt erblickte Müller die Peitsche.

„Eine Peitsche!“ rief er aus. „Sind Sie etwa geschlagen worden? Schnell, schnell, sagen Sie es!“

Der Gefangene schüttelte den Kopf, aber er antwortete nicht.

„Sagen Sie es!“ drängte Müller.

„Kann der Tote sagen, daß er gestorben ist?“

„Herr, mein Gott! Ja, Sie haben recht! Sie können nicht davon sprechen! Aber wehe dir, alter Satan! Du sollst jeden Hieb zehnfach empfinden! Diese Peitsche wird mit uns gehen. Der Name Königsau, welcher durch sie befleckt worden ist, soll – – –“

Er hielt inne. Der Grimm hatte ihn vermocht, diesen Namen zu nennen. Der Gefangene näherte sich rasch, so weit als die Kette und seine Kräfte es erlaubten, und fragte:

„Was war das? Welchen Namen nannten Sie?“

„Königsau“, antwortete Müller, da es nun nicht mehr zu umgehen war.

„Wirklich! Oh, ich hatte doch recht gehört! Kennen Sie diesen Namen?“

„Ich kenne ihn.“

„Können Sie mir von der Familie erzählen?“

„Ja, sobald Sie von hier fort sind.“

„Fort, fort, fort? Ich soll wirklich fort? Ich soll wirklich frei sein?“

„Ja. Hier sind die Schlüssel. Ihre Ketten werden fallen.“

„Gott, mein Gott, mein Gott!“

Er schlug die gefesselten Hände vor das Gesicht; dann sanken sie langsam herab, und er glitt wieder in den entsetzlichen Schmutz.

„Er ist ohnmächtig!“ sagte Marion weinend.

„Er wird wieder zu sich kommen“, suchte Müller mehr sich als sie zu beruhigen.

Dabei kniete er neben dem Besinnungslosen nieder und schloß ihm die eisernen Handschellen auf. Dann trug er ihn hinaus in den Gang und schloß die Tür zu.

„Wollen ihn untersuchen!“ sagte Fritz.

„Nein“, antwortete Müller. „Wir haben keine Zeit zu verlieren. Du mußt mit ihm hinauf in die freie, frische Luft. Komm! Kommen Sie, gnädiges Fräulein!“

„Ich bin wie im Traum“, sagte sie.

„Sie werden fröhlich erwachen.“

Er nahm seinen Vater auf die Arme und trug ihn fort bis unter das Loch.

„Wie ihn aber hinaufbringen?“ fragte Fritz.

„Zieh deinen Rock aus. Wir knöpfen ihn hinein. Dann ziehst du ihn am Seil empor.“

Das wurde gemacht. Fritzens Rock wurde wie ein Tuch benutzt, in welches der Ohnmächtige geknöpft wurde. Dann stieg der erstere empor und zog. Als die Last oben angekommen war, bat Müller:

„Gedulden Sie sich einen einzigen Augenblick, gnädiges Fräulein! Ich kehre gleich zurück.“

Er schwang sich am Seil hinauf und untersuchte den Vater.

„Wie steht es?“ fragte der besorgte Pflanzensammler.

„Er lebt. Er ist außerordentlich schwach. Wenn er erwacht und fragt, so sagst du ihm noch nichts.“

„Aber wenn er fragt, wer wir sind?“

„Du bist Pflanzensammler, und ich bin Hauslehrer. Im übrigen verweist du ihn auf mich.“

„Und hier soll ich warten?“

„Nein. Bis Vater erwacht, trägst du die Stämme fort. Dann suchst du mit ihm nach dem Waldloch zu kommen, wo wir uns treffen werden.“

„Aber warum kommen Sie nicht gleich mit?“

„Weil ich jetzt dem Verstand mehr zu gehorchen habe, als dem Herzen. Ich will, noch ehe der Alte wiederkommt, mit Marion zu ihrer Mutter.“

„Zu Liama?“

„Ja. Wir nehmen sie mit.“

„Sapperment. Welch ein Schlag für den Alten. Wohin wird sie geschafft?“

„Das wird sich finden! Spute dich jetzt und gib dir Mühe, nicht gesehen zu werden!“

Er küßte den Vater auf die eingefallene Wange und ließ sich dann am Seil hinab, welches Fritz sofort wieder hinaufzog.

„Ich hatte bereits wieder Sorge“, gestand Marion.

„Sie müssen entschuldigen! Ich wollte wissen, ob der Schwächezustand dieses armen Menschen besorgniserregend ist.“

„Wie haben Sie ihn gefunden?“

„Er wird sich erholen.“

„Gott sei Dank. Also ist er ein Königsau?“

„Ja.“

„So erklären Sie mir, wie – – –“

„Bitte, bitte!“ unterbrach sie Müller. „Heben wir das für später auf. Jetzt muß es unsere Sorge sein, in Sicherheit zu kommen, bevor der Kapitän zurückkehrt. Wir müssen eilen. Sind Sie bei Kräften?“

„Ich bin bei Ihnen, und da geht es.“

„Stützten Sie sich auf mich.“

Sie legte ihren Arm in den seinigen, und nun schritten sie in den Gang hinein. Dabei flüsterte sie:

„Wenn uns nun der Kapitän entgegenkommt?“

„Er hat uns mehr zu fürchten, als wie ihn. Auf alle Fälle nehme ich es mit ihm auf.“

Sie erreichten die Stufen, welche sie hinabstiegen. Dann ging es wieder eben fort, bis sie die Stelle erreichten, wo der Gang in den Brunnen mündete. Müller leuchtete hinauf.

„Also hier herunter sind Sie gekommen? Nun, da werden wir wohl auch hinauf gelangen.“

„Die Eisenstäbe sind stark“, bemerkte Marion, indem sie einen der Stäbe befühlte.

„Und nur in Fußweite auseinander. Das läßt sich bequem steigen. Wollen Sie es wagen?“

„Gewiß. Es ist kein Wagnis, sondern fast bequemer als eine Leiter.“

„Nur oben werden Sie sich meiner Hand anvertrauen müssen. Also bitte!“

Sie kamen glücklich in dem runden Brunnenraum an. Von hier aus öffnete Müllers Schlüssel die Türen, so daß sie nun in den Kreuzgang gelangten. Da bog Müller links ab, und als er um die Ecke getreten war, blieb er stehen und sagte:

„Jetzt endlich können Sie ein wenig ruhen. Nun mag der Kapitän zurückkehren; er kann uns nicht mehr begegnen.“

„Wissen Sie das sicher?“ fragte sie.

„Ja“, antwortete er. „Der Kapitän kommt von rechts da hinten und geht nach links. Hier herüber kommt er nicht. Übrigens fürchten wir ihn ja nicht.“

„Gott sei Dank!“

Er fühlte, daß sie sich schwer auf seinen Arm legte. Sie war doch nicht so stark, wie sie sich den Anschein gegeben hatte. Nur in seiner Nähe hatte sie Mut gefunden. Jetzt war es ihr nun, als müsse sie vor Schwäche zusammenbrechen.