Er hörte einen tiefen, tiefen Atemzug.
„Wird Ihnen übel, Mademoiselle?“ fragte er.
„So schwach“, hauchte sie.
Da wagte er es, den Arm um ihre Taille zu legen, um sie besser stützen zu können. Da legte sie ihm die Hand auf die Achsel und das Köpfchen an seine Brust.
„Monsieur Müller“, klang es leise.
„Mademoiselle“, flüsterte er zurück.
„Wie oft retteten Sie mich!“
„Oh, noch tausend, tausendemale, wenn es möglich wäre.“
„Ich glaube es. Sie sind meine Vorsehung.“
Sie preßte sich fester an seine Brust, und als er nicht antwortete, fuhr sie leise fort:
„Wissen Sie noch, als ich Sie im Steinbruch traf, und was Sie mir da sagten?“
„Ich weiß es noch.“
„Sie versicherten, mich zu lieben.“
„Ich wagte das.“
„Und es ist wahr?“
„Gewiß, o gewiß!“
„Ist es jetzt anders?“
„Nein, gnädiges Fräulein. Meine Liebe würde nur mit meinem Leben sterben.“
„Haben Sie vielleicht geglaubt, daß ich Ihnen wegen dieser Liebe zürne?“
„Muß ich es denn nicht glauben?“
„Warum?“
„Sie, das von Gott mit allen Gaben begnadete Kind der Aristokratie, und ich – – – ah!“
„Bitte, geben Sie mir einmal ihre Hand.“
Sie hatte die Linke noch immer auf seiner Achsel liegen. Jetzt ergriff sie mit der Rechten seine Hand und sagte:
„Ich fühle mich jetzt ganz und gar nicht als Aristokratin. Ich bin recht arm und elend, so arm und elend, wie selten eine. Was ich jetzt besitze, das ist Ihr Schutz und Ihre Freundschaft. Was wäre ich ohne Sie? Herr Müller, ich wollte, es bliebe so! Ich möchte stets nirgends weiter als bei Ihnen und mit Ihnen sein!“
Sie schwieg und erwartete seine Antwort. Sie kam sich in diesem Augenblick so hilflos und verlassen vor, und doch wußte sie, daß er nie das erste Wort sprechen werde. Darum hatte sie jetzt den Bann gebrochen.
Es dauerte eine Weile, ehe er antwortete:
„Mademoiselle Marion haben Sie diese Worte überlegt, ehe Sie sie aussprachen?“
„Nein. Herzensworte braucht man nicht zu überlegen.“
„O doch! Ich bin arm!“
„Sie sprachen von einer Stelle, welche Sie haben.“
„So tief dürfen Sie nie herabsteigen.“
„Ich steige nicht herab, sondern zu Ihnen hinauf.“
„Und ich bin nicht nur arm, sondern – – –“
„Sondern – – –?“
„Ich bin nicht Wohlgestalt.“
„Oh, sprechen Sie nicht davon. Man liebt an dem Mann ja vor allen Dingen den Geist, das Herz!“
„Wenn Sie wüßten, in welche Versuchung Sie mich führen.“
„Folgen Sie dieser Versuchung.“
Da beugte er sich zu ihre herab.
„Ist das Ihr Ernst, Marion?“
„Ja, mein größter, heiligster Ernst.“
Sie erwartete, daß er sie jetzt in heißer Liebe umschlingen werde, und sie hätte ihm mit Freunden den Mund zum Kuß geboten; aber statt dessen erklang es mahnend:
„Und jene Photographie?“
„Welche Photographie?“
„Welche Ihnen im Steinbruch entfiel.“
Er hatte die Laterne eingesteckt. Es war vollständig finster, und darum sah er nicht, welch glühende Röte sich bei diesen Worten über ihr Gesicht verbreitete. Aber er fühlte, daß ihre Hand leise erzitterte.
„Die ich Ihnen dann zeigte?“ fragte sie.
„Ja, die Photographie des preußischen Ulanenoffiziers.“
„Was ist's mit ihr?“
„Enthält sie nicht die Züge, welche sie im Herzen getragen haben?“
Sie schwieg, und erst nach einer Weile fragte sie:
„Warum sagen Sie mir das? Jetzt, jetzt?“
„Weil ich ehrlich gegen Sie sein will.“
„Sie sind nicht ehrlich gegen mich, sondern grausam gegen sich selbst.“
„Und Sie, Mademoiselle, sind dankbar gegen mich, und halten diese Dankbarkeit für ein zarteres Gefühl.“
Ihr Köpfchen zog sich langsam von seiner Brust zurück, und ihre Hand sank von seiner Schulter. Sie fühlte in diesem Augenblick, daß sie diesem äußerlich unscheinbaren und geistig doch so überlegenen Mann zu eigen sein müsse für ihr ganzes Leben; aber dürfte sie weiter gehen?
Und er, als er fühlte, daß sie sich zurückzog, sagte sich, daß er mit seinen Worten recht gehabt habe. Ihm wollte sie dankbar sein, aber den Offizier liebte sie.
„Meinen Sie nicht, daß Sie sich irren?“ fragte sie noch.
„Nein.“
„Es war ja nur ein Phantom, eine Fata morgana.“
„Aber eine unvergeßliche. Ich habe Ihnen den Namen dieses Offiziers genannt, da ich die Familie zufällig kenne. Heute finden Sie einen Königsau in den unterirdischen Kerkern von Ortry. Können Sie wirklich sagen, daß Sie die Herrin Ihres Herzens sind?“
„Sind Sie nicht gar zu viel Herr des Ihrigen?“
„Seien Sie gnädig, Mademoiselle. Geben Sie diesem Herzen Zeit! Das Ihrige wird ja sogleich auf das Außerordentlichste in Anspruch genommen werden.“
„Wodurch?“
„Ich stehe im Begriff, Sie zu jemand zu führen. Ich will Ihnen beweisen, daß ein körperliches Wesen kein Geist ist.“
„Gott! Sie meinen meine Mutter, von der Sie behaupten, daß sie lebt?“
„Sie befindet sich hier in der Nähe.“
„Und ich soll sie sehen?“
„Fühlen Sie sich stark genug dazu?“
„O ja, ja, ja. Kommen Sie; kommen Sie schnell!“
„Warten Sie noch! Es liegt mir nämlich sehr daran, sie von hier zu entfernen. Sie soll einsehen, daß sie dem alten Betrüger ihr Versprechen nicht zu halten braucht.“
„Wohin wollen Sie sie bringen?“
„Dahin, wohin ich Sie morgen begleiten werde. Erraten Sie auch das nicht?“
„Nein.“
„Bitte, denken Sie an den Brief, welchen Sie mir zu lesen gaben!“
„Ah, nach Malineau, zu Ella von Latreau?“
„Zu dieser Ihrer Freundin. Der Vater derselben, der General, wird Sie gern in seinen Schutz nehmen. Bei ihm sind Sie sicher vor jeder Gefahr, auch sicher vor Rallion und dem Kapitän.“
„Sie haben recht, sehr recht“, sagte sie schnell. Aber langsamer fügte sie hinzu: „Aber Sie –?“
„Ich kann allerdings nicht in Malineau bleiben; aber wir werden uns wiedersehen.“
„Wirklich?“
„Ja, sicher.“
„Wann?“
„Das ist nicht genau zu bestimmen.“
„Wohin werden Sie gehen?“
„Mein Beruf führt mich in nächster Zeit nach Paris.“
Er dachte dabei an einen siegreichen Einzug in die französische Hauptstadt; sie ahnte das nicht und bat also:
„Aber Ihre Adresse werden Sie mir zurücklassen!“
„Ich kenne sie jetzt selbst noch nicht, werde sie Ihnen aber dann mitteilen. Aber jetzt, bitte, gehen wir weiter!“
Er zog seine Laterne vor. Nach den ersten Schritten blieben sie wieder stehen.
„Monsieur Müller“, sagte sie zaghaft.
„Mademoiselle?“
„Lebt sie wirklich?“
„Ja, sie lebt.“
„O Gott, o Gott! Fühlen Sie hier!“
Sie führte seine Hand an ihr Herz, welches er schlagen fühlte. Er fragte besorgt:
„Sind sie wirklich stark genug.“
Ihr Angesicht war jetzt tiefblaß; sie blickte ihn mit großen, dunklen Augen an und sagte dann:
„Ja, ich bin stark genug, denn ich habe Sie bei mir.“
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, schritt er mit ihr vorwärts. Die Tür, welche bei seinem vorigen Besuch offen gestanden hatte, war jetzt verschlossen. Er zog den Schlüssel hervor und öffnete.
Der Raum, welchen er bereits gesehen hatte, war durch eine Lampe erleuchtet. Liama saß mit gekreuzten Beinen nach orientalischer Weise am Boden und ließ die Gebetkugeln durch die Finger gleiten. Sie hielt den Rücken gegen die Tür gerichtet und bewegte sich auch dann nicht, als sie hörte, daß diese geöffnet wurde.