Sie stiegen zu Pferd und ritten hinaus in das Feld, wo ein großes, langes Zelt errichtet war, in welchem die Ärzte und ihre verschiedenen Helfer und Helferinnen ihres Amtes walteten.
Schon von weitem erblickte Königsau einen alten, grauhaarigen und graubärtigen Herrn, welcher beschäftigt war, einem dort am Boden sitzenden Verwundeten den Arm zu verbinden. Es überkam ihn eine Ahnung, infolgedessen er seinem Pferd die Sporen gab.
Er hatte sich nicht getäuscht. Er sprang vom Pferd und eilte mit offenen Armen auf den Alten zu.
„Großvater!“ rief er aus.
Dieser drehte sich um, erblickte ihn und antwortete jubelnd:
„Richard!“
Sie lagen einander am Herzen.
„Aber“, meinte der Major nach der ersten herzlichen Begrüßung, „wie kannst du es wagen, im Feld zu erscheinen?“
„Wagen? Ach, Junge, die Kriegserklärung hat mich wieder jung gemacht, und als du fort warst, hat es mich auch nicht länger gelitten. Als Kombattant hat man mich freilich nicht annehmen wollen, aber ich habe wenigstens die Erlaubnis erzwungen, Wunden zuflicken zu helfen.“
„Aber sie haben dich daheim doch nicht allein fortgelassen?“
„O nein. Sie sind mit.“
„Wer?“
„Mensch, du fragst wer? Alle natürlich, alle.“
„Alle! Also auch der Vater?“
„Ja.“
„Etwa auch Emma?“
„Versteht sich. Sie hat auch noch andere mit.“
„Meinst du Nanon und Madelon?“
„Ja, und Deep-hill oder vielmehr den jungen Herrn von Bas-Montagne, der auch seinen Vater mitgenommen hat. Warte, ich werde sie holen.“
„Sie sind hier, gerade hier?“
„Ja, natürlich. Wir halten zusammen.“
Er wollte in das Zelt treten. Richard hielt ihn zurück und sagte:
„Halt, ich gehe selbst, um sie zu begrüßen.“
„Nein, du bleibst hier. Ihr würdet ein Aufsehen erregen, welches den armen Verwundeten schädlich sein müßte. Also wartet hier.“
Er ging hinein und kehrte bald mit allen den Genannten zurück. Die Herzlichkeit der Begrüßung läßt sich denken. Nanon aber achtete gar nicht auf Königsau.
„Fritz, lieber Fritz!“
Mit diesem Ruf flog sie an die Brust des einstigen Kräutermannes, der sie herzlich an sich drückte und Kuß auf Kuß bekam, ohne daß die beiden sich um die anderen bekümmerten.
„Na“, meinte da ihr Vater, „darf ich mir nicht auch ein Wort der Begrüßung ausbitten, Herr von Goldberg!“
„Sogleich, sogleich“, lautete die Antwort, wobei Fritz mit offenen Armen auf ihn zuging.
Da man sich so viel zu erzählen hatte, nahmen Königsaus Vater und Großvater nebst Emma von dem dirigierenden Arzt für kurze Zeit Urlaub und begaben sich mit Richard in das Lager, wo man bereits ein Unterkommen für den letzten besorgt hatte.
Sie hatten dort Platz genommen und wollten mit der Erzählung ihrer Erlebnisse beginnen, als ihnen eine abermalige große und freudige Überraschung zuteil wurde. Es kam ein Bote des Kommandierenden und meldete, daß eine Dame anwesend sei, welche bereits seit Tagen nach dem Gardekorps forsche, um da Angehörige der Familie Königsau aufzusuchen.
„Eine Dame?“ meinte der Major. „Das ist kühn, ja das ist sogar verwegen, unter diesen Verhältnissen dem Heer zu folgen. Woher ist sie?“
„Aus Paris!“
„Unglaublich. Eine Dame aus Paris? Eine Französin, welche nach uns die Schlachtfelder absucht? Ich erinnere mich nicht, eine einzige Pariserin zu kennen, welcher ich ein solches Unternehmen zutrauen könnte. Ist sie alt?“
„Nein, jung und nicht uninteressant. Übrigens kommt sie nicht direkt aus Paris, sondern aus Berlin, wo sie vergebens nach Ihnen gesucht hat.“
„Sonderbar.“
„Sie hat ihre Legitimation aus Paris und befindet sich auch im Besitz deutscher Papiere, welche es ihr ermöglicht haben, Sie hier zu suchen, ohne Gefahr befürchten zu müssen.“
„Wie heißt sie?“
„Ihr Name ist Agnes Lemartel.“
„Kenne ich nicht; ist mir völlig unbekannt. Wo befindet sie sich?“
„Draußen. Sie wartet auf die Erlaubnis, eintreten zu dürfen?“
„So wollen wir sie nicht länger warten lassen. Bitte, sagen Sie ihr, daß wir bereit sind, sie zu empfangen!“
Er empfahl sich und schickte die Tochter des Lumpenkönigs herein. Sie ging in Trauer und sah sehr blaß und angegriffen aus. Sie grüßte fast demütig und machte ganz den Eindruck einer Bittenden, deren Bitte eine so große ist, daß sie nur schwer an die Erfüllung derselben glauben kann.
„Bitte, mein Fräulein, nehmen Sie Platz“, sagte Richard, indem er ihr eine umgestürzte Kiste hinschob.
„Ich muß danken, gnädiger Herr“, sagte sie traurig und mit fast leiser Stimme. „Ich möchte nicht wagen, Ihrem gütigen Befehl Gehorsam zu erweisen. Ich habe im Stehen zu Ihnen zu sprechen.“
„Nicht doch, man soll nicht von uns sagen, daß wir einer Dame die mögliche Bequemlichkeit verweigert hätten.“
„Sie wissen ja nicht, in welcher Angelegenheit ich zu Ihnen gekommen bin, Herr Major.“
„Ich werde es hören. Also bitte, setzen Sie sich.“
Und als sie es auch jetzt nicht tat, nahm Emma sie am Arm und zog sie auf die Kiste nieder, indem sie in aufmunterndem Ton sagte:
„Wenn Ihre Angelegenheit eine so niederdrückende ist, bedürfen Sie ja erst recht der Unterstützung. Nehmen Sie also Platz, und seien Sie überzeugt, daß Sie auf unsere Freundlichkeit rechnen können.“
„Mein Gott, wenn ich das wirklich glauben dürfte“, sagte sie, indem sich ihre Augen mit Tränen füllten.
„Sie dürfen davon überzeugt sein. Sprechen Sie getrost. Wir sind ja gern bereit, Sie anzuhören.“
Und um ihr Mut zu machen, sagte der alte Großpapa:
„Wir hörten, daß Sie von Berlin kommen?“
„Ja. Ich reiste von Paris dorthin, um Sie aufzusuchen.“
„Leider waren wir ins Feld gezogen.“
„Ich erfuhr, daß Sie dem Gardekorps angehören. Das war mit ein Fingerzeig, Sie hier zu finden.“
„Ist die Angelegenheit denn so dringlich, daß Sie sich zu solchen Strapazen und Wagnissen entschließen konnten? Hätte es sich nicht aufschieben lassen?“
„Nein. Ich weiß nicht, ob Ihnen von dem Offizier, der die Güte hatte, mich zu Ihnen zu bringen, mein Name genannt worden ist?“
„Sie heißen Agnes Lemartel, wie wir hörten.“
„Ja. Jedenfalls ist dieser Name Ihnen unbekannt?“
„Ganz und gar.“
„In Paris kennt ihn ein jeder. Mein Vater war der bedeutendste Vendeur de chiffons in ganz Frankreich. Man nannte ihn nur den Lumpenkönig. Sie haben also zunächst zu verzeihen, daß die Tochter eines Lumpenhändlers es wagt, Sie zu inkommodieren.“
„Bitte“, sagte Richard, „es muß allerlei Menschen geben. Ich weiß sehr gut, was ein Pariser Lumpenhändler zu bedeuten hat. Diese Herren gehören keineswegs zu den Leuten, welche nicht zu beachten sind. Sie tragen Trauer, und Sie sagen, daß Ihr Herr Vater Vendeur de chiffons gewesen sei. Er ist also nicht mehr? Er ist tot?“
„Ja. Er starb vor kurzer Zeit, und zwar in Algier, wo ich mit ihm war. Er wurde ermordet.“
„Mein Gott. Von Eingeborenen?“
„Nein, sondern von Franzosen, von zwei berüchtigten Subjekten, nach denen die Polizei schon längst, jedoch vergebens, gefahndet hatte. Es war ein Mensch, der nur Vater Main genannt zu werden pflegte, und der andere hieß Lermille und war Seiltänzer gewesen.“
„Alle Wetter!“ entfuhr es dem Major.
„Wie? Haben Sie von diesen beiden Menschen gehört?“
„Ja. Erst gestern habe ich mit meinem Freund und Kameraden, dem Rittmeister von Hohenthal, von ihnen gesprochen. Den Seiltänzer habe ich sogar steckbrieflich verfolgen lassen.“
„Jedenfalls auch vergebens.“
„O doch nicht. Sie sind beide ergriffen worden. Vater Main befindet sich in Metz in Gewahrsam und wird mit dieser Stadt in unsere Hände geraten, hoffentlich wenigstens. Und den anderen habe ich selbst über die Grenze nach Deutschland gebracht. Er befindet sich jetzt in Berlin in Untersuchung und hat bereits sehr wichtige Eröffnungen gemacht.“