„So hat ihn die Nemesis doch ereilt. Diese beiden Männer ermordeten meinen Vater, während ich im Nebenzimmer weilte. Er war von dem Messer so getroffen worden, daß er mir nur noch sagen konnte, sein Name sei nicht Lemartel, und ich solle im Geldschrank nachsehen. Ich ließ ihn begraben und eilte trotz meines Gemütszustandes nach Paris. Im Schrank fand ich neben seinen Ersparnissen ein Portefeuille, nur für mich bestimmt. Es enthielt zwei Briefe und sodann ein schriftliches Geständnis meines Vaters, welches sich auf Sie bezieht.“
„Auf uns?“ fragte Richard. „Sie machen uns wirklich wißbegierig, Mademoiselle.“
„Der eine der beiden Briefe war geschrieben von dem Grafen Rallion und der andere von einem Kapitän Richemonte.“
„Ah! Wirklich? Wir sind gespannt.“
„Beide Briefe beweisen, daß die Genannten beabsichtigten, das Besitztum der Familie Königsau mit Hilfe eines Unterhändlers Samuel Cohn zu kaufen –“
„Herrgott! Ist es das?“ rief der alte Großpapa.
„Ja“, fuhr das Mädchen fort. „Der Preis sollte ausgezahlt, dann aber gestohlen und unter die beiden Genannten verteilt werden.“
„Das ist ja auch geschehen. Also geteilt haben sich diese Schurken diese Summe? Dachte ich es mir doch.“
„Nein, gnädiger Herr, sie haben nicht geteilt. Derjenige, der das Geld stahl, hat es ihnen gar nicht gegeben; er hat sie betrogen und die Summe für sich behalten.“
„Kennen Sie seinen Namen?“
„Ja.“
„Henry de Lormelle?“
„So nannte er sich; aber er hieß nicht so. Er war der Diener des Grafen und des Kapitäns.“
Der alte Hugo von Königsau fuhr sich mit der Hand nach dem Kopf und sagte:
„Das sind böse, böse Erinnerungen. Jenes Ereignis kostete meiner Frau das Leben. O Margot, meine Margot.“
Es trat eine minutenlange Pause ein. Alle waren vom Schmerz tief bewegt. Endlich fragte Richard:
„Was aber haben Sie mit jenen Ereignissen zu tun, Mademoiselle? Wollen Sie uns das erklären?“
„Ich sagte, daß das Portefeuille die Bekenntnisse meines Vaters enthalten habe –“
„Allerdings.“
„Und daß er mir kurz vor seinem Tode gesagt habe, daß sein Name eigentlich nicht Lemartel sei –“
„Das sagten Sie.“
„Nun, meine Herrschaften, mein Vater war – war –“
Sie stockte und nahm das Tuch an die Augen, um den Strom ihrer Tränen zu hemmen.
„Sprechen Sie. Sprechen Sie!“ bat Richard.
Sie nahm alle Kraft zusammen und gestand: „Er war – er war jener – Henry de Lormelle.“
Bei diesen Worten fuhr der alte Königsau empor. Er richtete das große, starre Auge auf sie und sagte:
„Was? Ihr Vater war jener Dieb?“
„Ja“, schluchzte sie.
„Ah. Er stahl mir ein Vermögen, und er mordete mir mein Weib. Ich habe ihm geflucht mit Worten und in Gedanken, und ich wiederhole auch jetzt noch in dieser Stunde: Fluch ihm, Fluch –“
„Großvater!“ unterbrach ihn Emma in flehendem Ton. „Halt ein. Kann sie denn dafür? Sie ist ja unschuldig.“
„Unschuldig! Oh, Kind, es tat doch so weh, so unendlich weh, als – aber du hast recht, sie ist unschuldig, und ich will sie nicht betrüben.“
„Sprechen Sie weiter“, forderte Richard die Französin auf.
Sie gab sich Mühe, ihr Schluchzen zu überwinden, und fuhr fort:
„Ich las die Bekenntnisse meines Vaters und die beiden Briefe; ich erkannte, daß er ein Dieb – o mein Gott, ein Dieb gewesen sei, und daß ihm nichts, gar nichts gehöre und mir auch nicht. Alles, was er hinterließ, war Eigentum der Familie von Königsau. Ich war verpflichtet, es zurückzugeben.“
„Das war natürlich ein schwerer Schlag für Sie“, sagte Emma in bedauerndem Ton.
„Das?“ fragte Agnes. „Daß ich das Geld zurückerstatten mußte? O nein, das war kein Schlag für mich. Es gehört mir nicht, und ich gebe es gern und willig zurück. Aber daß mein Vater ein Dieb sei, das traf mich ins tiefste Leben. Ich bin die Tochter dieses Mannes. Sie werden mich hassen und verachten, und ich muß es tragen. Verzeihen Sie mir, daß ich es wagte, Sie aufzusuchen.“
Da sagte Richard in festem, überzeugendem Ton:
„Sie irren, Mademoiselle. Wir hassen und verachten Sie nicht. Warum haben Sie die Bekenntnisse Ihres Vaters nicht vernichtet? Niemand wußte davon, und Sie wären Besitzerin seines Nachlasses geblieben.“
„Herr Major“, sagte sie vorwurfsvoll.
„Gut, gut. Sie sehen also, daß wir vielmehr alle Veranlassung haben, Sie hochzuachten. Sie sind brav und ehrlich. Hier haben Sie meine Hand. Ich gebe sie Ihnen im Namen aller meiner Verwandten und versichere Ihnen dabei, daß von der Tat Ihres Vaters nicht der Hauch eines Schattens auf Sie fällt.“
Da ging ein Zug stillen Glücks über ihr schönes, bleiches Angesicht. Sie antwortete:
„Ich danke, o ich danke Ihnen, gnädiger Herr. Dieser Augenblick ist seit dem Tod meines Vaters der erste, an dem ein Strahl in das Dunkel meines Daseins fällt. Ich war fast leblos, fast konnte ich nicht denken. Und doch mußte ich handeln, um Ihnen Ihr Eigentum zurückzuerstatten. Der Krieg stand vor der Tür; man konnte nicht in die Zukunft sehen. Wer würde siegen und wer unterliegen? Ich tat, was ich für das Beste hielt. Ich wußte einen zahlungsfähigen Käufer und verkaufte ihm das Geschäft und alles, was wir besessen hatten. Den Erlös und die Summen, welche der Vater bar hinterlassen hatte, verwandelte ich beim Bankier in Anweisungen auf Berlin und reiste damit nach Deutschland, um sie zu suchen. Sie waren fort, und ich folgte Ihnen. Nun habe ich Sie gefunden. Hier haben Sie die Anweisungen, und hier ist auch die Brieftasche meines Vaters. Seien Sie überzeugt, daß Sie alles erhalten. Ich habe nichts, gar nichts für mich weggenommen. Ich habe alles, was auch ich besaß, Kleider, Ringe und Sonstiges verkauft und den Erlös dazu getan.“
Sie gab dem alten Königsau zwei Brieftaschen. Er zögerte, die Hand nach ihnen auszustrecken.
„Mademoiselle, Mädchen“, sagte er. „Sie sind ja ganz und gar des Teufels.“
„O nein. Ich gebe Ihnen zurück, was Ihnen gehört.“
„Aber das ist ja eine Großmut, welche ganz ohnegleichen ist, welche wir gar nicht akzeptieren können.“
„Nicht Großmut, sondern Pflicht ist es. Und obgleich ich es tue, stehe ich doch als Sünderin vor Ihnen und flehe Sie inständigst an, mir das zu vergeben, was an Ihnen verbrochen worden ist.“
Da streckte ihr der Alte denn doch die Hand entgegen und sagte in herzlichem Ton:
„Fräulein Lemartel, Ihnen haben wir nichts zu verzeihen, und auch – auch –“, es wurde ihm schwer, aber er fuhr doch fort: „Auch Ihrem Vater sei vergeben. Er mag in Frieden ruhen. Was aber dieses Geld betrifft – Gebhard, Richard, was sagt ihr dazu?“
Der Major antwortete, indem er sich an Agnes wendete:
„Sie haben nichts für sich behalten?“
„Nein; glauben Sie es mir.“
„Wir glauben es. Aber wovon wollen Sie leben?“
„Meine Zukunft ist gesichert. Ich gehe in ein Kloster, um für meinen Vater zu beten.“
Emma sah das schöne, brave Mädchen mitleidig an, faßte sie bei den Händen und sagte:
„Nein, nein! Das sollen Sie nicht! Das dürfen Sie nicht!“
„Ganz gewiß nicht!“ stimmte Richard bei. „Wir werden dieses Geld keineswegs annehmen. Wir werden es vielmehr an sicherer Stelle deponieren. Jetzt sind wir in Anspruch genommen, wir haben keine Zeit zu ruhiger, unparteiischer Prüfung. Ist der Krieg vorüber, so werden wir sehen, ob das Geld uns wirklich gehört und wieviel wir davon beanspruchen können. Sind Sie damit einverstanden?“