„Herr Gott, dich loben wir! Herr Gott, dir danken wir!“
Die Nacht sank hernieder, und welch eine Nacht! Was Frankreich seit Jahrhunderten an Deutschland verschuldet hatte, war in dieser ewig denkwürdigen Nacht vor Sedan zur Vergeltung gekommen.
Noch um Mitternacht wurde zwischen Moltke und dem General Wimpffen, welcher an Mac Mahons Stelle heute das Oberkommando geführt hatte, die Kapitulation abgeschlossen. Am nächsten Morgen fand eine Unterredung zwischen Bismarck und Napoleon statt, nach welcher der letztere die Erlaubnis erhielt, vor König Wilhelm zu erscheinen. Jenes an Benedetti telegraphierte ‚Brusquez le roi‘ hatte sich schnell gerächt.
Um die Mittagszeit streckten die Franzosen das Gewehr.
Gegen neunzigtausend Mann mußten sich gefangen geben. Dreihundertdreißig Kanonen, sechsundsiebzig Mitrailleusen und hundertvierunddreißig Festungsgeschütze wurden erbeutet. Acht Adler und fünfzig Geschütze waren bereits während der Schlacht dem Feind abgenommen worden. Außerdem betrug der Verlust der Franzosen an Toten und Verwundeten gegen zwanzigtausend Mann – eine fürchterliche Lehre, die sie erhalten hatten. Ob sie dieselbe beherzigen werden?
Nachdem Königsau sich mit seinem siegreichen Regiment zurückgezogen hatte, gab er das Kommando für kurze Zeit ab, um nach der Ambulanz zu reiten. Man brachte von allen Seiten Verwundete herbei.
Ein alter Herr, mit dem Genfer Zeichen am Arm, schleppte einen Schwerverwundeten zum Arzt. Er mußte an den Dreien vorüber, erblickte sie, sah den Franzosen und rief erstaunt:
„Herr Haller!“
„Herr Untersberg!“ antwortete dieser. „Sie hier, Sie? Haben Sie sich entschließen können, Ihre Kolibris zu verlassen?“
„Oh, zwei habe ich mit!“
„Wo?“
„Sie sind da drinnen.“ Dabei deutete er auf das Zelt. „Sehen Sie, da kommt der eine.“
Madelon war im Eingang erschienen. Sie erblickte die drei und rief, genau wie ihr Vater:
„Herr Haller!“
„Ah, Mademoiselle Madelon, wer hätte denken können, Sie hier zu treffen. Sie wagen sich in so gefährliche Nähe des Todes?“
Da sagte Königsau:
„Bitte, keine Verwechselung, meine Herrschaften. Dieser Herr heißt nicht Haller, sondern von Goldberg; er ist der Bruder unseres Herrn Lieutenant von Goldberg. Nun aber und vor allen Dingen wollen wir einmal nach unseren Wunden sehen.“
Diese zeigten sich glücklicherweise bei allen dreien als nicht gefährlich. Sie wurden verbunden und zogen sich dann zurück, da die Sanitäter zu sehr in Anspruch genommen waren.
Als dann später die Kunde verlautete, daß der Kaiser gefangen genommen worden sei, hielt Königsau vor seinem Regiment in der Nähe von Daigny. Sie stimmten alle in das ‚Herr Gott, dich loben wir‘ mit ein.
Da kam ein Bataillon Infanterie vorübermarschiert. Es waren Gardemänner, hohe, breitschulterige Gestalten. Daher stach ein kleiner Kerl gegen sie ab, welcher an der Flanke marschierte. Er war außerordentlich dick, trug die Zeichen eines Feldwebels von der Linie und hatte, anstatt Pickelhaube oder Mütze zu tragen, seinen Kopf mit einem roten Taschentuch umwickelt.
Er war blessiert, beteiligte sich aber mit weitgeöffnetem Mund an dem Lobgesang.
Die Begeisterung, mit welcher er dies tat und der Kontrast seiner kugeligen Figur mit den anderen Gestalten riefen bei den Ulanen ein lustiges Lachen hervor. Er bemerkte es, blieb einen Augenblick stehen und trat dann schnell näher.
„Mensch“, sagte er zum Flügelmann. „Was lachst du denn? Bin ich dir etwa zu dick?“
„Ja.“
„Gut. Und du bist mir zu dumm. Guten Abend!“
Er marschierte weiter und mußte an Königsau vorüber. Diesen erblicken und sofort halten bleiben, war eins.
„Donnerwetter! Herr Doktor Mül – – – Oh, Pardon! Wollte sagen, Herr Oberstwachtmeister von Königsau.“
„Feldwebel Schneffke!“ rief der Genannte, der den Kleinen erst jetzt erkannte.
„Zu Befehl. Hieronymus Aurelius Schneffke, Kunst- und Tiermaler außer Dienst.“
„Was haben Sie denn am Kopf?“
„Hm. Bin an eine vorüberfliegende Kanonenkugel gerannt.“
„Ich dachte, Sie wären gefallen.“
„Heute nicht. Im Dienst überhaupt nicht. Ah, wer ist denn das? Sapperlot, Herr Haller aus dem Tharandter Wald? I, grüß Sie doch der liebe Gott, alter Schwede! Aber, französische Uniform? Kapitän?“
„Ja, Sie sehen, wie man sich irren kann“, sagte Königsau. „Aber, bester Feldwebel, wie kommt denn eigentlich Saul unter die Propheten?“
„Sie meinen, der Dicke unter die Langen?“
„Ja.“
„Ich hatte Brieftaschen zu überbringen, und da hier der Krakeel kein Ende nehmen wollte, so habe ich tüchtig mit zugehauen. Es ist deshalb so rasch alle geworden.“
„Schön, schön! Ich habe aus Malineau keine Nachricht empfangen können. Wie ging es dort?“
„Wir nahmen drei Viertel der Spahis gefangen; die anderen mußten dran glauben. Herr Rittmeister von Hohenthal ritt mit seinen Husaren ab. Er liegt jetzt mit vor Metz. Vielleicht erstürmt er es, wenn es sich nicht freiwillig ergibt.“
„Und die Damen des Schlosses?“
„Sie befanden sich sehr wohl, als wir drei Tage später abgelöst wurden und abziehen mußten.“
„Danke! Wann gehen Sie zurück?“
„Morgen.“
„Begeben Sie sich nach der Ambulanz da unten, um sich verbinden zu lassen. Sie werden Bekannte treffen.“
Der Dicke salutierte und setzte dann seinen Marsch fort, jetzt freilich allein. –
Am Abend gab es ein entsetzliches Gedränge in der Festung. Auf den Straßen fand sich kaum Platz, daß sich einer an dem anderen vorüberdrängen konnte. Militär und nur wieder Militär! Zivilisten waren kaum zu sehen.
Daher kam es wohl, daß ein bürgerlich gekleideter Mann, welcher langsam hart an einer Häuserreihe hinstrich, sich einen Begegnenden, welcher auch Zivil trug, etwas genauer anblickte, als er es sonst wohl getan hätte. Sie waren schon aneinander vorüber, da blieb er halten, wandte sich um und sagte:
„Pst, Sie da! Warten Sie einmal.“
Der Angeredete blieb stehen und ließ den anderen herankommen. Dann fragte er:
„Was wollen Sie?“
„Kennen wir uns nicht?“
„Hm. Wüßte nicht.“
„O doch! Nur ist es Ihnen vielleicht nicht lieb, wenn Ihr Name genannt wird.“
„Warum nicht?“
„Aus gewissen Gründen.“
„Die möchte ich doch kennenlernen.“
„Sie können sie erfahren.“
Er bückte sich zu dem anderen, welcher etwas kleiner war, nieder und flüsterte ihm ins Ohr:
„Vater Main.“
„Donnerwetter!“ entfuhr es diesem.
„Habe ich recht?“
„Nein. So ist mein Name nicht.“
„Papperlapapp! Ich kenne Sie. Fürchten Sie sich nicht. Sehen Sie einmal her.“
Er schlug die Hutkrempe, welche den oberen Teil seines Gesichtes verdeckt hatte, empor, so daß der Schein einer Laterne auf Stirn und Nase fiel.
„Wetter noch einmal!“ sagte Vater Main.
„Nun, kennen Sie mich?“
„Natürlich, Herr Kapitän.“
„Was treiben Sie hier?“
„Hm. Was treiben Sie denn hier?“
„Auch hm. Haben Sie Obdach?“
„Nein.“
„Kommen Sie mit mir.“
„Wohin?“ fragte Main ein wenig argwöhnisch.
„Fürchten Sie sich nicht. Ich will Ihr Unglück nicht. Ich wohne bei einem Offizier der bisherigen Garnison.“
„Bin ich dort sicher?“
„So gut wie ich.“
„O weh! Sicher sind Sie doch nur bis morgen.“
„Leider! Doch vorwärts jetzt.“
Sie wanderten miteinander weiter. Der alte Kapitän führte den einstigen Wirt in ein nicht sehr großes Haus, in den Hof desselben und dirigierte ihn dann eine steile, schmale, hölzerne Treppe empor.