„Wohin geht denn das?“ fragte Vater Main. „Etwa gar in den Taubenschlag?“
„Nein, es ist nur die Holzkammer. Da; bleiben Sie stehen, bis ich Licht angebrannt habe, damit Sie sehen können.“
Bald leuchtete ein Flämmchen auf, bei dessen Schein Main sehen konnte, daß er sich in einem mit Brettern verschlagenen, kleinen Raum befand, dessen vier Wände von hohen Lagen gespaltenen Brennholzes verdeckt waren. In der Mitte stand ein Schemel, und in der einen Ecke lag eine wollene Pferdedecke.
„So“, sagte der Alte. „Haben Sie sich jetzt orientiert?“
„Ja. Man braucht nicht lange Zeit. Die Bude ist klein genug.“
„So wollen wir wieder auslöschen. Setzen Sie sich auf den Schemel. Ich lege mich auf die Decke. Haben Sie etwa Hunger?“
„Mehr als genug.“
„Nun, ich habe da zwischen dem Holz etwas Fleisch und Brot stecken. Das wird für beide zureichen.“
Er zog seinen kleinen Vorrat hervor, teilte ihn, gab Vater Main die Hälfte und sagte dann:
„Ein eigentümliches Zusammentreffen. Ich glaubte gehört zu haben, daß Sie in Metz gefangen sind?“
„Ich war es.“
„Also entflohen?“
„Nein. Es galt Briefschaften herauszuschaffen, durch den Kreis der Belagerer. Das ist lebensgefährlich. Man ließ mich frei mit der Bedingung, diese Briefe zu besorgen.“
„Und Sie haben es fertig gebracht?“
„Nur halb.“
„Wieso?“
„Die Briefe bekamen die Deutschen; ich aber entkam ihnen.“
„Sapperment! Wie ist das möglich?“
„Man rannte mir nach, als man mich bemerkt hatte. Ich warf einen Brief nach dem andern von mir. Während sie hinter mir die Schreibereien auflasen, erreichte ich den Wald.“
„Und dann?“
„Dann, verdammte Geschichte. Ihnen kann ich es ja sagen: Ich bin vogelfrei. Da traf ich einen Bauern, welcher Spannfuhre hatte tun müssen. Ich bemächtigte mich seines Fuhrwerks und seiner Legitimation und setzte mich auf seinen Wagen. So kam ich in die Nähe von Stonne. Da kamen die verdammten Soldaten und zwangen mich, sie zu fahren, während ich nebenher laufen mußte.“
„Wohin wollten Sie?“
„Hier ganz in die Nähe, nämlich nach Daigny. Da habe ich einen nahen Verwandten, der mir verschiedenes zu verdanken hat und mir sicher durchgeholfen hätte.“
„Paßte denn die Legitimation zu dieser Tour?“
„Wunderbar gut. Der Bauer war nämlich aus der Gegend von Mézières; ich mußte also über Sedan, wenn ich dahin wollte.“
„Sapperment! Das könnte passen.“
„Was? Wie?“
„Sagen Sie mir vorher, was aus dem Bauer geworden ist, dem Sie das Fuhrwerk abgenommen haben.“
„Ich weiß nicht. Ich glaube, er lebt nicht mehr.“
„Ach so! Ja, ich kenne Vater Main. Wissen Sie, als Sie in Ihrer Wirtschaft in Paris den Werber für mich machten, hätten wir nicht gedacht, welch elenden Anfang dieser Krieg nehmen würde.“
„Anfang?“
„Ja doch.“
„Ich denke, daß es das Ende ist.“
„Glauben Sie dies ja nicht. Es ist ein Zusammentreffen verschiedener unglücklicher Umstände, welches diese Deutschen bisher begünstigt hat. Aber Frankreich besitzt unerschöpfliche Hilfsquellen. Das Unglück wird uns stark und einig machen und uns zum endlichen Sieg führen.“
„Davon habe ich nichts.“
„Sie als Franzose!“
„Ja doch. Ich bin gar nichts mehr, also auch kein Franzose. Ein jeder kann mich totschlagen. Ich will zu meinem Verwandten; der muß Geld schaffen, damit ich nach Amerika oder nach Australien kann.“
„Sind Sie denn ganz mittellos?“
„Hm! Ich hatte Geld, da drüben in Algier; aber die Polizei hatte entdeckt, welche Banknotennummern es waren.“
„Sie hatten also einen Geniestreich ausgeführt?“
„Ja. Er war so prächtig gelungen. Aber, der Teufel hole das Genie. Glück ist die Hauptsache.“
Der Kapitän hielt es nicht für geraten, zu sagen, daß er jetzt selbst blutarm sei. Er antwortete:
„Was nützt einem das Geld, wenn es einem an den Kragen geht.“
„An den Kragen?“
„Ja. Wenn mich morgen die Deutschen erwischen, bin ich verloren. Sie haben Ursache dazu.“
„Das ist dumm!“
„Freilich, freilich. Wie nun, wenn wir uns gegenseitig unterstützten, Vater Main?“
„Wie sollte das geschehen?“
„Sie bringen mich aus der Stadt, und ich sorge für Geld.“
„Das letztere wäre mir schon recht, wenn nur auch das erstere ermöglicht werden könnte.“
„Sehr leicht.“
„Auf welche Weise?“
„Haben Sie Ihr Fuhrwerk noch?“
„Das ist zum Teufel! Alles kaputtgeschossen.“
„Aber die Legitimation haben Sie noch?“
„Ja, hier in der Tasche.“
„So wird man Sie ja doch passieren lasen.“
„Meinen Sie?“
„Gewiß. Und weil Sie sich ausweisen können, ist es Ihnen ja sehr leicht, mich zu legitimieren.“
„Auf diese Art und Weise. Sie sind aus meinem Dorf und haben mit Pferd und Wagen dem Heer folgen müssen, gerade ebenso wie ich. Sie haben dabei alles verloren, mehr noch als ich, nämlich die Legitimation.“
„So meine ich es.“
„Wir können es versuchen. Aber, Sie haben doch Beziehungen im Kreis der Offiziere.“
„Oh, selbst ein Marschall könnte mich nicht retten, wenn die Deutschen einmal erfahren, wer ich bin.“
„So möchte ich fragen, wie Sie hier nach Sedan gekommen sind. Das ist ja gefährlich.“
„Wer konnte dies ahnen? Wer wußte, daß die Deutschen an allen Stellen siegen würden? Ich hatte einen Brief Mac Mahons nach Metz zu bringen. Es gelang mir. Ich empfing Antwort und brachte sie dem Marschall, nachdem ich den Deutschen entkommen war. Sie hatten Metz noch nicht vollständig zerniert. Ich blieb bei der Armee, weil ich glaubte, daß wir die Deutschen schlagen würden. Nun stecke ich in der Mausefalle. Der Teufel hole Preußen.“
„Meinetwegen mag er die ganze Welt holen und mich mit. Zuvor aber will ich das Leben noch ein wenig genießen. Was fangen wir heute abend an? Könnten wir nicht schon heute aus der Stadt kommen?“
„Unmöglich. Man läßt keine Maus hinaus.“
„So müssen wir uns allerdings leider gedulden.“
Sie hatten sich für heute nichts weiter zu sagen, da es keinem einfiel, den anderen zum Vertrauten seiner besonderen Erlebnisse zu machen. Darum streckten sie sich nieder und waren bald in Schlaf versunken.
Sie erwachten bereits am sehr frühen Morgen. Der ungeheure Lärm, den es auf den Straßen gab, machte es unmöglich weiterzuschlafen. Sie begaben sich hinunter auf die Gasse. Dort erfuhren sie, daß die Stadt noch vollständig eingeschlossen sei und kein Mensch sie vor Abschluß der Kapitulation verlassen dürfe.
Infolgedessen zogen sie sich wieder in ihr Versteck zurück, wo der Alte, mehr aus Langeweile als aus Aufrichtigkeit, dem einstigen Restaurateur mitteilte, daß er freilich im Augenblick nicht bei Mitteln sei, bald aber zu Geld gelangen könne, wenn es ihm nur gelänge, das Lager der Deutschen ungehindert zu passieren.
„Nun“, sagte Vater Main, „wenn es auch Ihnen am Geld fehlt, so wird mein Cousin welches schaffen müssen. Er soll es wieder erhalten.“
Als sie gegen Mittag die Straße wieder betraten, erfuhren sie, daß die Kapitulation abgeschlossen worden sei, und daß man es Zivilpersonen bereits erlaube, sich aus der Stadt zu entfernen.
Sie machten den Versuch und gelangten in das Freie, ohne daß sie gehindert worden wären. Nur draußen am Tor wurden sie von dem machthabenden deutschen Offizier nach Namen und Stand gefragt, und als Vater Main seine Legitimation vorzeigte und dabei bemerkte, daß sein Begleiter ein Kamerad von ihm sei, der mit ihm nach der Heimat wolle, so wurde ihnen nichts in den Weg gelegt.
Sie passierten verschiedene Truppenteile und sahen alle die Spuren des gestrigen Kampfes. Sie erreichten nach kurzer Zeit Daigny, wo der Cousin Vater Mains sich vor einigen Jahren als Krämer niedergelassen hatte.