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Main kannte das Haus, vor dessen Tür ein vielleicht fünfzehnjähriger Junge stand. Er sah sich die beiden an, welche eintraten, ohne daß er ihnen ein Wort sagte.

Sie öffneten die Tür zur Wohnstube, fuhren jedoch erschrocken zurück. Der Raum war voller Verwundeter; er wurde als Lazarett benutzt.

Gerade jetzt trat aus der gegenüberliegenden Tür der Besitzer des Hauses. Er sah seinen Verwandten und erschrak.

„Himmel! Du bist hier“, stieß er hervor.

„Ja. Bin ich dir unwillkommen?“

„Nein. Aber, hat man dich gesehen?“

„Die da drinnen.“

„Du bist in diese Stube getreten?“

„Ja, weil es die Wohnstube ist.“

„Was! Und dieser dumme Junge, dieser Nichtsnutz, steht hier an der Tür und sagt den Fremden, welche eintreten, nicht, daß da das Lazarett ist. Wie nun, wenn jemand dich erkannt hätte. Warte Bursche! Hier.“

Er gab dem Knaben einige Ohrfeigen und führte dann die beiden eine Treppe höher. Dort öffnete er eine Tür.

Das Haus hatte nur ein Stockwerk. Unten befand sich die Wohnstube und der Kramladen. Darüber lagen zwei einfache Kammern mit Bretterwänden. In die eine derselben brachte er sie.

„Hier wohne ich jetzt“, sagte er. „Dieser Krieg ist ein Unglück, aber er bringt mir Geld ein. Ich habe seit gestern früh fast alle meine Vorräte verkauft. Es ist jammerschade, daß ich nicht mehr habe. Wer ist dieser Herr?“

„Ein Freund von mir. Der Name tut nichts.“

„So kennt er dich?“

„Natürlich.“

„Auch deine gegenwärtigen Verhältnisse?“

„Nicht genau. Er weiß nur, daß die Polizei die Patschhändchen nach mir ausstreckt.“

„Wie aber kannst du dich in diese Gegend wagen!“

„Ich bin überall gefährdet. Ich mußte zu dir, weil ich Geld brauche, ohne welches ich nicht weiterkann.“

„Du sollst haben, was ich entbehren kann. Wohin willst du dich wenden?“

„Nach Amerika.“

„Hm! Hast du Legitimation?“

„Hier mein Freund wird sorgen – Donner und Doria. Da kommen drei auf dein Haus zu.“

Er hatte durch das Dachfensterchen geblickt. Sein Cousin warf auch einen Blick hinaus und sagte:

„Meine Einquartierung.“

„Alle Teufel! Sie wohnen bei dir?“

„Ja. Es ist ein Major von den Ulanen. Diese Herren sind auch froh, wenn sie unter Dach und Fach sind. Die Zimmer werden als Lazarett benutzt, darum nehmen die Offiziere die Kammern.“

Auch der Kapitän war ans Fenster getreten. Er erbleichte.

„Kommen diese Männer hierher?“

„Ja. Sie kommen hier herauf. Sie logieren drüben in der anderen Kammer.“

„Alle Wetter! Sie dürfen uns nicht sehen. Was ist zu tun?“

„Sind es Bekannte von Ihnen?“ fragte Vater Main.

„Freilich, freilich.“

„Pfui Teufel“, sagte der Krämer. „Sie treten auch in diese Kammer, wenn sie mich suchen.“

„Und hinunter können wir nicht, denn sie sind nur noch wenige Schritte entfernt. Ein Versteck, ein Versteck! Gibt es denn keins hier oben?“

„Einen ganz engen Raum oben unter dem Dachfirst.“

„Dann schnell da hinauf.“

„Es geht weder Leiter noch Treppe hinauf. Turnen Sie sich da an den Balken in die Höhe.“

Die beiden Flüchtlinge kletterten bis zu dem engen, schmalen Hahnebalkenboden empor und krochen soweit wie es möglich war, hinein. Sie hatten sich kaum in Sicherheit gebracht, so kamen die drei Männer zur Treppe herauf. Es waren die drei Königsau, Enkel, Vater und Großvater.

Der erste trat in die Kammer des Wirtes und fragte:

„Hat jemand nach mir begehrt?“

„Nein, Herr Major.“

„Schön! Gehen Sie hinab. Sorgen Sie dafür, daß niemand nach hier oben kommt. Bei diesen Bretterwänden ist ja jedes gesprochene Wort für jedermann hörbar.“

Der Wirt gehorchte und stieg hinab. Richard überzeugte sich, daß niemand vorhanden war; dann traten sie in die gegenüberliegende Kammer, über welcher die beiden Flüchtlinge steckten.

Diese Kammer enthielt drei Strohsäcke und einen Stuhl; das war das ganze Meublement. Es war eben Krieg. Ein Dachfenster erlaubte den Ausblick ins Freie.

Der Großvater mußte auf dem Stuhl Platz nehmen; die beiden anderen setzten sich auf die Strohsäcke.

„So“, sagte der Major. „Die Anstrengung ist für Großpapa zu viel. Gestern und die ganze Nacht im Lazarett tätig gewesen. Du sollst hier nun einige Stunden schlafen.“

„Ein wenig ruhen, ja“, sagte der alte Liebling Blüchers. „Schlafen aber kann ich nicht.“

„Du mußt ja mehr als müde sein!“

„Nicht im geringsten. Kinder, Ihr glaubt nicht, was mit mir vorgeht. Der Kanonendonner, der Hufschlag, das Kriegsleben hat in mir Erinnerungen geweckt, welche längst gestorben schienen. Ich befinde mich auf dem Schauplatz früherer Taten.“

Er trat an das Fensterchen, blickte hinaus und fuhr fort.:

„Dort geht es nach Roncourt und Chêne. Dort sang ich als Erkennungszeichen die Arie ‚Ma chérie est la belle Madeleine‘. Da drüben geht es nach dem Meierhof Jeanette, wo ich den großen Napoleon belauschte, und da rechts führt die Straße nach Bouillon, wo ich damals – ah, die Kasse, die Kriegskasse.“

„Großpapa schone dich“, bat Richard.

„Schonen? Schonen? Jetzt, wo es hell und licht wird? Nein, nein! Denken will ich; denken muß ich! Oh, mein Gott, die Erinnerung kommt.“

Er hielt sich an den Fensterbalken an und starrte hinaus. Seine Lippen zitterten; über sein altes, ehrwürdiges Gesicht ging ein wechselvolles Mienenspiel. Dabei fuhr er fort:

„Da geht's nach Bouillon. In der Schenke blieb ich über Nacht. Dann am Wasser entlang, bei den Bäumen links ab, an der Köhlerhütte vorüber nach der Schlucht. Dort erschlug der Kapitän den Baron Reillac. Und da gruben wir – gruben wir – – – die Kriegskasse aus und – – – schafften sie – – – Herr, mein Heiland, ich hab's! So ist's gewesen. O Gott, o Gott! Endlich, endlich weiß ich alles, was damals geschehen ist! Hört, hört! Ich muß es euch erzählen!“

Und er erzählte es, Wort für Wort, was damals geschehen war. Er konnte sich auf jedes Wörtchen, auf jeden Strauch besinnen. Er beschrieb die Stelle, an welcher er die Kasse zum zweiten Mal vergraben hatte, so genau, als wenn es erst gestern geschehen wäre. Dann fügte er hinzu:

„Wir müssen hin, unbedingt hin, heute oder morgen oder wann es sei, aber bald, recht bald!“

„Welch ein psychologisches Rätsel“, sagte Gebhard von Königsau.

Aber sein Sohn winkte ihm Schweigen zu. Der Großvater fuhr fort:

„Nun möchte ich den Kapitän haben! Ah, könnte ich doch mit ihm kämpfen, noch heut, noch heut! Kinder, ich weiß nicht, wie mir ist. Es strengt mich doch an. Laßt mich ruhen; ich will schlafen; ich will ausschlafen, und dann gehen wir nach der Kasse – der Kasse – – – der Kasse!“

Er stand vom Stuhl auf und setzte sich auf einen der Strohsäcke. Sein Sohn wollte irgendwelche Bemerkungen machen; aber Richard sagte bittend:

„Laß ihn, Vater! Ja, er mag schlafen. Später werden wir ja weitersprechen können.“

Er nahm den Kopf des alten Mannes in den Arm und ließ ihn langsam nach hinten gleiten. Wunderbar! Es währte nicht eine Minute, so war Hugo von Königsau in einen Schlaf versunken, aus welchem ihn vielleicht kein Schuß zu erwecken vermocht hätte.

„Die Anstrengung des Gehirns war zu groß“, sagte sein Enkel. „Der Schlaf wird ihn stärken. Komm, Vater, gehen wir wieder. Wir könnten ihn stören.“

„Seltsam. Seltsam!“

„Sogar unbegreiflich. Der fünfzig Jahre lang verlorene Zusammenhang ist plötzlich gefunden, einzig und allein durch den Anblick dieser Gegend. Komm, wir werden bald wieder nach ihm sehen.“