„Hast du ihn gesehen?“
„Einmal, aber nur vorübergehend.“
„Ich habe ihn nicht nach dem Alter gefragt; ich denke aber, daß dasselbe stimmen wird. Übrigens wird man ja den Lermille fragen können.“
„Wer ist dieser Lermille?“
„Ein Bajazzo, ein Seiltänzer.“
„Hat denn dieser auch mit unserer Angelegenheit zu schaffen?“
„Sogar sehr“, antwortete Richard, welcher sich wohl hütete, gleich alles zu sagen. Das wäre doch wohl gefährlich gewesen. Der General mußte erst vorbereitet werden.
„Inwiefern?“ fragte der letztere.
„Nun, er ist eigentlich ein Vagabund, ein verbrecherisches Subjekt. Er gab in Thionville Vorstellungen und hatte eine Stieftochter bei sich, welche Seiltänzerin war und sich in unseren Wachtmeister hier zum Sterben verliebte.“
„Gehört das auch hierher?“
„Vielleicht.“
„Spanne mich nicht auf die Folter!“
„Nein; ich will dir nur beweisen, daß die Person dieses Bajazzos für uns von Wert ist.“
„Dann weiter.“
„Dieser Mensch tötete seine Stieftochter und ging dann mit der Kasse des Direktors durch. Die Tochter war nicht sofort tot; sie erzählte noch in ihren letzen Augenblicken, daß ihr Stiefvater einst zwei Knaben geraubt habe, welche zwei Löwenzähne bei sich getragen hätten.“
„Ah, jetzt kommt es! Wo hat er sie geraubt?“
„In Preußen.“
„Und wohin geschafft?“
„Einer der Knaben ist unterwegs verlorengegangen, ich glaube in der Nähe von Neidenburg in Ostpreußen.“
„Und der andere?“
„Der wurde nach Paris geschleppt.“
„Aber warum?“
„Der Vagabund war von Richemonte und dem Grafen Rallion erkauft worden, wie ich vermute und später zu beweisen hoffe.“
„Ah! Also diese beiden. Diese Halunken sind es gewesen! Gebt mir Beweise in die Hände, Beweise, und ich werde Rallion und Richemonte zermalmen!“
„Um Beweise bringen zu können, muß man sich des Knabenräubers bemächtigen.“
„Allerdings. Aber du sagtest, er sei entflohen?“
„Leider!“
„Er muß verfolgt werden.“
„Ich hetzte sofort die Polizei hinter ihm her, aber vergeblich, bis ganz unerwartet –“
„Unerwartet – – – was denn, was!“
„Er mir im Schloß Malineau in die Hände lief.“
„Du hieltest ihn fest? Er ist also gefangen?“
„Ja.“
„Gott sei Dank“, sagte der Graf, tief aufatmend. „Wir haben die Zähne, und wir haben den Knabenräuber; nun endlich wird Klarheit in diese – – – doch, o weh!“
„Was, lieber Onkel?“
„Dieser verteufelte Krieg! Der Bajazzo hatte den Mord auf französischen Gebiet begangen.“
„Ja, in Thionville.“
„Dann ist für mich zunächst nichts zu hoffen.“
„Warum?“
„Die Kriegserklärung ist geschehen; Frankreich ist unser Feind; es wird uns den Räuber nicht ausliefern.“
„auch.“
„Aber ich werde dafür sorgen, daß er uns nicht entgehen kann.“
„Was willst du tun?“
„Ich wende mich nach Paris an den Justizminister.“
„Das ist zu zeitraubend und zu unsicher.“
„Weißt du etwas Schnelleres und Sicheres?“
„Wende dich an mich.“
„An dich? Was soll das heißen? Mensch, du steckst ja heute ganz und gar voller Geheimnisse!“
„In welche ich dich aber einweihe. Ich habe dafür gesorgt, daß du keines französischen Beamten bedarfst. Nämlich dieser Bajazzo ist wieder entsprungen.“
„Alle Teufel! Wie ist ihm das gelungen? Einen Mörder pflegt man doch festzuhalten!“
„Ich selbst habe ihm zur Freiheit verholfen.“
„Bist du gescheit?“
„Ganz dumm bin ich wohl nicht gewesen.“
„Aber nun ist er doch wieder fort!“
„Von Malineau, ja. Nämlich nicht ich habe ihn gefangengenommen, sondern mein Freund, der Rittmeister von Hohenthal, welcher ihn – – –“
„Hohenthal?“ fiel der General ein. „Mein Kopf brummt förmlich von allen diesen Überraschungen.“
„Darum will ich nicht auf Details eingehen, für welche ja später Zeit ist, sondern ich will nur die Konturen zeichnen. Hohenthal kannte ihn als Verbrecher, ohne zu ahnen, daß er der Räuber der Zwillinge sei. Er traf ihn in Malineau und nahm ihn fest. Ich kam dazu, erfuhr davon und ließ den Bajazzo des Nachts aus seinem Gefängnis.“
„Aber, Richard, das ist ja geradezu verrückt.“
„Nein. Höre mich an. Ich wußte ja, daß uns der Kerl nichts nützen könne, solange er sich in Frankreich befände. Er mußte unbedingt über die Grenze herüber. Darum befreite ich ihn, gab mich für einen auch mit dem Gesetze Zerfallenen aus und floh mit ihm über die Grenze, um ihn da in meine Gewalt zu bringen.“
„Gott sei Dank!“ stieß der General hervor.
„Nun, war das dumm?“ lächelte Richard.
„Nein, sondern es war ein Geniestreich.“
„Freut mich, daß du mich nun gar für ein Genie hälst.“
„Aber du hast ihn doch festnehmen lassen?“
„Natürlich.“
„Wo befindet er sich in Gewahrsam?“
„Hier in Berlin.“
„Das ist herrlich; das ist prächtig!“
„Wir gehen gleich morgen früh zum Staatsanwalt, um die Untersuchung einleiten zu lassen.“
„Ja; ich verliere keinen Augenblick. Also du glaubst, daß der junge Lemarch –“
„Ich weiß zunächst, daß er der Besitzer des zweiten Zahnes ist. Das Weitere müssen wir abwarten.“
„Und der erste Zahn? Also sein Besitzer ist Soldat?“
„Ja. Er ist ein Waisenkind.“
„Jetzt Soldat. Aber welchen Beruf hat er?“
„Barbier und Friseur.“
„Mein Gott! Wenn er wirklich unser Sohn wäre! Und Barbier! Was muß er gelitten haben! Wann ist er eingetreten? Weißt du das?“
„Vor bereits längerer Zeit.“
„Natürlich! Seinem Alter nach! Und er dient noch?“
„Ja.“
„So muß er chargiert sein!“
„Ja, das ist er.“
„Welchen Grad?“
„Wachtmeister.“
„Er ist also Kavallerist?“
„Ja.“
„Bei welchem Regiment?“
„Gardeulanen.“
„Wie? Also in deinem Regiment?“
„Ja, sogar in meiner Schwadron.“
Fritz saß da mit völlig blutleerem Gesicht; er wagte nicht, die Augen zu erheben. Der General war abermals aufgesprungen; er starrte Richard wie geistesabwesend an, brachte aber kein Wort hervor. Statt seiner aber rief der Großvater über den Tisch herüber:
„Gott stehe mir bei! Da kommt mir ein Gedanke!“
„Nun, welcher denn?“ fragte Richard lachend.
„Der Betreffende ist Wachtmeister deiner Schwadron, und der Maler Haller hat den anderen Zahn?“
„Ja.“
„In deiner Schwadron ist nur ein einziger Wachtmeister?“
„Natürlich.“
„Ist dir nicht eine Ähnlichkeit aufgefallen, Richard?“
„Du meinst, zwischen Haller und dem Wachtmeister?“
„Ja.“
„Oh, die ist sogar ungeheuer groß.“
„So ist – alle Teufel, es will fast nicht heraus! – So ist dieser Fritz Schneeberg hier der Wachtmeister?“
„Aufrichtig gestanden, ja.“
„Und zugleich der Besitzer des Zahns?“
„Gewiß.“
„Er hat ihn zeit seines Lebens bei sich getragen; er war Barbier und Friseur; er stammt aus der Gegend von Neidenburg. – Sapperlot und Sapperment, Goldberg, General, Vetter, der Fritz da ist der ältere Zwillingsjunge!“
Kunz von Goldberg war noch immer sprachlos. Er hielt den Blick auf Fritz gerichtet; er wollte die Arme erheben, um ihn zu umarmen; aber er konnte sich nicht bewegen.
Da stand Fritz von seinem Platz auf, richtete den tränenden Blick auf den General und sagte: