Das kam ein wenig unerwartet.
Gewiss, die vielen Zeitungen hatten das Vorhandensein einer türkischen Leserschaft bereits nahegelegt, wenn auch die Umstände von deren Zustandekommen im Unklaren geblieben waren. Und freilich war mir auch auf meinem Fußwege der eine oder andere Passant aufgefallen, dessen arische Abstammung, gelinde gesagt, nicht nur in der vierten und fünften Generation fragwürdig schien, sondern eher bis hinein in die letzte Viertelstunde. Doch auch wenn nicht ganz klar wurde, in welcher Funktion die rassischen Fremdlinge hier zugange waren, leitend schien ihre Tätigkeit nicht. Auch aus diesem Grunde war die ganze Übernahme mittelständischer Betriebe bis in die Namensgebung hinein schwer vorstellbar, und selbst aus Gründen wirtschaftlicher Propaganda ließ sich meiner Erfahrung nach die Taufe eines »Blitzreinigung’s-Service« auf den Namen »Yilmaz« nicht recht nachvollziehen. Seit wann zeugte ein »Yilmaz« von sauberen Hemden? Ein »Yilmaz« zeugte allenfalls vom mehr oder weniger zufriedenstellenden Betrieb eines ältlichen Eselkarrens. Allein eine alternative Reinigung bot sich nicht an. Und nicht zuletzt galt es, durch Geschwindigkeit den politischen Gegner unter Druck zu setzen. Insofern hatte ich in der Tat Bedarf für eine Blitzreinigung. Von beträchtlichen Zweifeln befallen, marschierte ich ein.
Ein verzerrtes Glockenspiel begrüßte mich. Es roch nach Putzmittel, es war warm, deutlich zu warm für ein Baumwollhemd, aber die hervorragenden Uniformen des Afrikakorps waren ja leider derzeit nicht verfügbar. Im Laden war niemand. Auf der Theke war eine Glocke, wie man sie öfter im Hotel findet.
Nichts geschah.
Man hörte deutlich orientalisch-wehleidige Musik, möglicherweise trauerte in einem hinteren Arbeitsbereiche eine anatolische Waschfrau ihrer entfernten Heimat nach – ein wunderliches Verhalten, zumal wenn man doch das Glück hatte, stattdessen in der deutschen Reichshauptstadt zu leben. Ich musterte die Kleidungsstücke, die hinter der Theke in Reih und Glied hingen. Sie waren in einen transparenten Stoff gehüllt, dem Materiale nicht unähnlich, aus dem mein Beutel bestand. Man schien generell alles in dieses Zeug zu hüllen. Ich hatte dergleichen schon einmal in einigen Labors gesehen, doch die IG Farben war damit in den letzten Jahren wohl erheblich weitergekommen. Meiner Information nach war die Herstellung des Materials zwar in entscheidendem Umfange vom Besitz von Erdöl abhängig und daher entsprechend kostspielig. Doch die Art, in der hier der Umgang mit Kunststoffen gepflegt wurde, ja, auch wie hier mit dem Automobil gefahren wurde, ließ darauf schließen, dass Erdöl kein Problem mehr zu sein schien. Hatte das Reich womöglich die rumänischen Vorkommen in Händen behalten? Unwahrscheinlich. Hatte Göring am Ende auf heimischem Boden neue Quellen gefunden? Bitteres Lachen stieg in mir auf – Göring! Eher als Öl in Deutschland würde er noch Gold in seiner Nase finden. Der unfähige Morphinist! Was wohl aus ihm geworden war. Denkbarer schien, dass man auf andere Ressourcen ausgewichen war, und –
»Warten schon lange?«
Ein südeuropäischer Mann mit asiatischen Wangenknochen sah aus einem Durchlass vom hinteren Bereiche in den Verkaufsraum hervor.
»Durchaus!«, sagte ich ungehalten.
»Warum nix klingel?« Er wies auf die Glocke auf seiner Theke und schlug sachte mit der flachen Hand drauf. Die Glocke läutete.
»Ich hatte hier geklingelt!«, sagte ich mit Nachdruck und öffnete die Eingangstür. Es ertönte wieder das seltsam verzerrte Glockenspiel.
»Musse hier klingel!«, sagte er uninteressiert und schlug nochmals auf seine Thekenglocke.
»Ein Deutscher klingelt nur einmal«, sagte ich gereizt.
»Dann hier«, sagte der Reinigungsmischling ungewissen Grades und läutete erneut mit der flachen Hand. Ich hatte plötzlich große Lust, die SA vorbeizuschicken, um ihm das Trommelfell mit seiner eigenen Glocke zerfetzen zu lassen. Oder noch besser: beide Trommelfelle, dann konnte er künftig seiner Kundschaft erklären, wo sie beim Eintreten zu winken hatte. Ich seufzte. Es war schon ärgerlich, wenn man der einfachsten Hilfskolonnen entraten musste. Die Angelegenheit hatte wohl zu warten, bis einiges in diesem Lande wieder geradegerückt war, aber im Geiste begann ich schon einmal eine Liste der Volksschädlinge aufzustellen, und »Reinigung’s-Yilmaz« stand hiermit ganz oben. Einstweilen blieb mir nichts übrig, als grimmig die Thekenglocke aus seiner Reichweite zu ziehen.
»Sagen Sie mal«, fragte ich harsch, »machen Sie auch Sachen sauber? Oder ist da, wo Sie herkommen, das Reinigungsgewerbe eine ausschließlich läutende Tätigkeit?«
»Was Sie wolle?«
Ich legte meinen Beutel auf die Theke und holte die Uniform hervor. Er schnupperte leicht in die Luft, dann sagte er: »Ah, Sie Tankstellemann«, und nahm die Uniform gleichmütig an sich.
Es hätte mir gleichgültig sein können, was irgendein fremdrassiger Nichtwähler glaubte, aber dennoch konnte ich nicht ganz darüber hinwegsehen. Gut, der Mann war nicht von hier, aber konnte ich derart in Vergessenheit geraten sein? Andererseits kannte das Volk mich schon früher häufig nur von den Pressefotos, die mich üblicherweise aus einem besonders günstigen seitlichen Winkel zeigten. Und die leibhaftige Begegnung wirkt dann doch davon oft überraschend verschieden.
»Nein«, sagte ich bestimmt, »ich bin nicht der Tankstellenmann.«
Daraufhin blickte ich leicht an ihm vorbei nach oben, um ihm dank des fotogeneren Blickwinkels deutlicher zu zeigen, wen er da vor sich hatte. Der Reiniger musterte mich nicht sehr interessiert, mehr anstandshalber, jedoch schien ich ihm auch nicht völlig fremd. Er beugte sich dann nach vorne über die Theke und sah auf meine tadellos in die Schaftstiefel gesteckte Hose.
»Ich weisnich… Sie berühmte Angelmann?«
»Jetzt geben Sie sich doch mal Mühe«, rief ich energisch und auch nicht wenig enttäuscht. Sogar bei dem Zeitungskrämer, auch er mit Sicherheit kein Genie, hatte ich doch auf ein gewisses Vorwissen bauen können. Nun das! Wie sollte ich zurück in die Reichskanzlei, wenn ich niemandem ein Begriff war?
»Moment«, sagte der zugewanderte Trottel, »hole ich Sohn. Immer schaut fern, immer schaut Intanet, kennt alles. Mehmet! Mehmet!«
Es dauerte nicht lange, bis jener Mehmet nach vorne kam. Ein groß gewachsener, mäßig reinlich wirkender Jüngling schlurfte zusammen mit einem Freund oder Bruder nach vorne. Das Erbgut dieser Familie schien nicht zu unterschätzen, die beiden trugen die alten Sachen von noch größeren, offenbar wahrhaft gigantischen Brüdern auf. Hemden wie Bettlaken, unvorstellbar große Hosen.
»Mehmet«, sagte sein Erzeuger und wies auf mich, »kennstu Mann?«
In den Augen des kaum mehr Knaben zu nennenden Knaben war ein Leuchten zu erkennen.
»Ey, Mann, Alter, klar! Das ist der, der immer die Nazisachen macht…«
Na, wenigstens etwas! Das war zwar fraglos ein wenig salopp formuliert, aber doch letzten Endes nicht ganz unzutreffend. »Es heißt Nationalsozialismus«, korrigierte ich ihn wohlwollend, »oder nationalsozialistische Politik, das kann man auch sagen.« Zufrieden blickte ich bestätigt zu »Reinigung’s-Yilmaz«.