Diese Vergehen hatte das 16-jährige Fräulein jedoch nur aufgrund seiner Zuneigung zu einem Jungen namens Enndi begangen, der zur gleichen Zeit Beziehungen zu drei weiteren auszubildenden Damen unterhielt, von denen eine offenbar eine Schauspielerin war oder werden wollte. Verursacht durch nicht nachvollziehbare Umstände hatte sie diesen Karriereweg allerdings zugunsten einer Nebenbeschäftigung im kriminellen Milieu zurückgestellt und war nunmehr Teilhaberin eines Wettbüros. Ähnlicher himmelschreiender Blödsinn mehr wurde verkündet, währenddessen die Gerichtsmatrone dazu mit einem vollkommen ernsthaften Gesicht eifrig nickte, als wären diese völlig abwegigen Erzählungen das Normalste der Welt und kämen eigentlich tagtäglich vor. Ich konnte es schlichtweg nicht begreifen.
Wer würde derlei freiwillig ansehen? Sicher, Untermenschen vielleicht, die grob lesen und schreiben konnten, aber sonst? Fast schon abgestumpft schaltete ich zu der dicken Frau zurück. Ihr abenteuerliches Leben war offenbar seit meinem letzten Besuch von einer Reklamesendung unterbrochen gewesen, deren Ende ich noch mitbekam. Jedenfalls ließ es sich der Sprecher nicht nehmen, noch einmal für mich zu erklären, dass das erbärmliche Weibsstück jegliche Kontrolle über seinen schwachsinnigen Bankert von Dreckstochter verloren hatte und in der letzten halben Stunde nicht weitergekommen war, als den Hinauswurf der kleinen Idiotin mit einer unablässig rauchenden Nachbarin lang- und breitzuwalzen. Letzten Endes, so teilte ich lautstark dem Apparat mit, gehörte dieser ganze Zirkel verunglückter Existenzen in ein Arbeitslager, die Wohnung sollte man renovieren oder, noch besser, mitsamt dem ganzen Haus abreißen und irgendein Aufmarschgelände darüberplanieren, auf dass die Erinnerung an das unselige Treiben ein für alle Mal getilgt würde aus dem gesunden Volksempfinden. Entnervt warf ich das Kontrollkästchen in den Papierkorb.
Was für eine übermenschliche Aufgabe hatte ich mir da gestellt!
Um meines Zornes wenigstens einigermaßen Herr zu werden, beschloss ich, für einen Moment vor die Türe zu gehen. Nicht lange, natürlich, denn ich mochte mich nicht weit vom Telefonapparat entfernen, aber doch wenigstens geschwind in die Blitzreinigung laufen, um die Uniform abzuholen. Seufzend betrat ich das Geschäft, ließ mich als »Herr Stromberg« begrüßen, holte meinen überraschend einwandfrei gereinigten Rock ab und machte mich zügig auf den Heimweg. Kaum konnte ich es erwarten, wieder in vertrauter Kleidung der Welt gegenüberzustehen. Doch natürlich bekam ich nach meiner Rückkunft als Erstes die Mitteilung von der Gehilfin an der Rezeption, dass man telefonisch nach mir verlangt hatte.
»Aha«, sagte ich, »natürlich. Gerade jetzt. Und wer?«
»Keine Ahnung«, sagte die Gehilfin und blickte abwesend auf ihren Fernsehapparat.
»Ja, haben Sie das denn nicht notiert?«, herrschte ich sie ungeduldig an.
»Die haben gesagt, die rufen wieder an«, versuchte sie ihr Fehlverhalten zu entschuldigen. »War es denn wichtig?«
»Es geht«, sagte ich entrüstet, »um Deutschland!«
»Blöd«, sagte sie, und glotzte wieder in ihren Bildschirmapparat. »Und was ist mit Henndi?«
»Ich! Weiß! Es! Nicht!«, schrie ich wütend und marschierte entnervt in mein Zimmer, um meine Fernsehstudien fortzusetzen. »Die ist wahrscheinlich vor Gericht, weil sie ihre Ausbildungsstätte verloren hat!«
viii.
Es war erstaunlich, wie sehr doch meine gewohnte Kleidung dem Menschen die Wiedererkennung erleichterte. Schon als ich in die Droschke einstieg, begrüßte mich der Chauffeur launig, aber durchaus vertraut.
»Tach, Meesta! Sinwa wieda im Lande?«
»In der Tat«, nickte ich ihm zu und nannte ihm die Adresse.
»Allet klar!«
Ich lehnte mich zurück. Ich hatte keine besondere Droschke bestellt, aber wenn dies ein durchschnittliches Modell war, so saß man darin vortrefflich.
»Was ist das für ein Wagen?«, fragte ich beiläufig.
»’n Mazeedet!«
Eine Welle nostalgischer Empfindungen überkam mich, ein plötzliches Gefühl wundersamer Geborgenheit. Ich dachte an Nürnberg, die glänzenden Reichsparteitage, die Fahrt durch die wunderbare Altstadt, den spätsommerlichen, ja frühherbstlichen Wind, der gleich einem Wolfe um den Schirm meiner Mütze strich.
»Da hatte ich auch mal einen«, sagte ich versonnen, »ein Kabriolett.«
»Und?«, fragte der Chauffeur. »Fährt jut?«
»Ich habe keinen Führerschein«, sagte ich leichthin, »aber Kempka hat sich nie beschwert.«
»’n Führa ohne Führaschein?« Der Chauffeur lachte hell auf. »Juta Witz!«
»Aber alt.«
Eine kurze Gesprächspause trat ein. Dann nahm der Chauffeur die Unterhaltung wieder auf.
»Und? Ham Se’n noch? Den Wagen. Oda ham Se’n vakooft?«
»Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was daraus geworden ist«, sagte ich.
»Schade«, sagte der Chauffeur. »Und? Wat machen Se in Balin? Wintagaatn? Wühlmäuse?«
»Wühlmäuse?«
»Na, welche Bühne? Wo treten Sie auf?«
»Ich gedenke demnächst im Rundfunk zu sprechen.«
»Dachtickmia«, sagte der Chauffeur, mit einem wie mir schien zufriedenen Lächeln. »Schon wieda jroße Pläne, wa?«
»Die Pläne schmiedet das Schicksal«, sagte ich fest, »ich tue nur das, was in diesen und künftigen Zeiten für den Erhalt der Nation getan werden muss.«
»Sie sind echt jut!«
»Ich weiß.«
»Ham Se Lust auf’n klein’n Abstecha zu Ihr’n altn Wirkungsstättn?«
»Später vielleicht. Ich möchte nicht unpünktlich sein.«
Letztlich war dies auch der Grund für die Bestellung der Droschke gewesen. Ich hatte selbst auch aufgrund meiner begrenzten Finanzmittel angeboten, mich zu Fuß oder mit der Tram zum Firmengebäude zu begeben, doch Sensenbrink hatte angesichts der Unwägbarkeiten und möglicher Verkehrsverstopfungen darauf bestanden, eine Droschke zu ordern.
Ich blickte aus dem Fenster, um Teile der Reichshauptstadt wiederzuerkennen. Es war nicht leicht, auch weil der Chauffeur die großen Straßen mied, um besser voranzukommen. Alte Gebäude waren kaum noch zu sehen, ich nickte mehrfach zufrieden. Dem Feind war offenbar tatsächlich so gut wie nichts hinterlassen worden. Zu ermitteln galt es noch, wie es dann überhaupt sein konnte, dass an dieser Stelle nach kaum siebzig Jahren schon wieder so viel Stadt war. Hatte nicht Rom in die Erde des eroberten Karthago Salz gestreut? Ich hätte jedenfalls in Moskau ganze Eisenbahnzüge voll Salz verstreut. Oder in Stalingrad! Andererseits war natürlich Berlin kein Gemüsegarten. Der schöpferische Mensch kann selbstverständlich auch auf gesalzenem Boden ein Kolosseum bauen, rein von der Bautechnik und Baustatik her gesehen ist eine ausgestreute Menge Salzes im Boden sogar vollkommen irrelevant. Und es war natürlich auch wahrscheinlich, dass der Feind beeindruckt vor den Ruinen Berlins gestanden hatte wie die Awaren vor den Trümmern Athens. Und die Stadt dann im verzweifelten Bemühen um einen Erhalt der Kultur wieder aufgebaut hatte, so gut es eben zweit- und drittklassigen Rassen gelingen mochte. Denn dass hier in überwiegendster Menge Minderwertiges errichtet worden war, daran konnte es für das geschulte Auge schon auf den ersten Blick keinen Zweifel geben. Ein furchtbarer Einheitsbrei, der dadurch noch schlimmer wurde, dass es überall nur dieselben Geschäfte gab. Ich hatte erst gedacht, wir führen im Kreise, bis mir auffiel, dass es Dutzende Kaffeegeschäfte von Herrn Starbuck gab. Die Bäckervielfalt war dahin, überall gab es Einheitsmetzger, sogar mehrere »Blitzreinigung’s-Service Yilmaz« fand ich. Und von derart einfallsloser Gestalt waren auch die Häuser dazu.