Einige Minuten später passierte ich eine Baustelle. Männer mit Helmen schlurften herum, es sah im Wesentlichen so aus, wie ich es noch von meiner bitterarmen Zeit in Wien kannte, während der ich mich auf Baustellen verdingt hatte, um mir mein tägliches Brot zu verdienen. Ich blickte neugierig durch den Zaun, ich erwartete, den Häusern beim Wachsen zusehen zu können, aber offenbar hatte die Technik hier nicht allzu große Fortschritte gemacht. Im oberen Stockwerk faltete ein Polier gerade einen Jüngling zusammen, er mochte ein Werkstudent sein, ein angehender Architekt, ein junger, hoffnungsvoller Mensch, wie ich einst einer war. Auch er musste sich der schieren Gewalt des Arbeiters unterwerfen, die erbarmungslose Welt der Baustelle war heute noch dieselbe wie einst. Da konnte der junge Mann Einblicke gewonnen haben in Sprachwissenschaft und Naturphilosophie, das zählte nichts in diesem Universum aus Zement und Stahl. Andererseits bedeutete das auch: Es gab sie noch immer, die brutale, schlichte Masse, ich musste sie nur erwecken. Und auch die Qualität des Blutes schien durchaus brauchbar.
Ich musterte weiterschlendernd die Gesichter, die mir entgegenkamen. Insgesamt hatte sich nicht allzu viel geändert. Die Maßnahmen unter meiner Regierungszeit hatten sich offenbar ausgezahlt, auch wenn sie wohl nicht fortgesetzt worden waren. Vor allem Mischlinge waren kaum zu erkennen. Man sah relativ starke östliche Einflüsse, immer wieder slawische Elemente in den Gesichtern, aber das war in Berlin ja schon immer so gewesen. Was hingegen neu war, war ein erhebliches türkisch-arabisches Element im Straßenbild. Frauen mit Kopftüchern, alte Türken in Jacke und Schiebermütze. Zu einer Vermengung des Blutes war es allerdings allem Anscheine nach nicht gekommen. Die Türken, die ich sah, sahen aus wie Türken, eine Verbesserung durch arisches Blut war da nicht konstatierbar, obwohl die Türken daran sicher ein erhebliches Interesse hatten. Schleierhaft blieb mir jedoch, was der Türke in so großer Zahl auf der Straße trieb. Dazu noch um diese Uhrzeit. Um importiertes Dienstpersonal schien es sich jedenfalls nicht zu handeln, von Eile war bei den Türken nichts zu spüren. Eher ließ ihre Art des Fortkommens eine gewisse Gemächlichkeit erahnen.
Ein Klingeln riss mich aus meinen Gedanken. Ein Läuten, wie es üblicherweise in Schulen das Ende einer Stunde oder des Unterrichtes ankündigte. Ich sah auf, tatsächlich war unweit ein Schulgebäude zu sehen. Ich beschleunigte meine Schritte und setzte mich auf eine freie Bank dem Gebäude gegenüber. Vielleicht ergab sich eine Schulpause oder sonst eine Gelegenheit, einmal in großer Zahl die Jugend zu mustern. Und in der Tat strömte eine erhebliche Menge aus dem Gebäude, allerdings war eine nähere Identifikation der Schulart völlig unmöglich. Etliche Buben konnte ich ausmachen, es schien jedoch keine gleichaltrigen Mädeln zu geben. Was aus dem Gebäude kam, war entweder im Grundschulalter oder schien bereits durchaus gebärfähig. Es mochte sein, dass die Wissenschaft einen Weg entdeckt hatte, jene verwirrenden Jahre der Pubertät zu vermeiden und vor allem die jungen Frauen sofort in ein fruchtbares Alter zu katapultieren. Der Gedanke war im Grunde naheliegend, da eine über lange Jahre der Jugend durchgeführte Abhärtung sinnvoll nur beim Manne ist. Die Spartaner des klassischen Griechenland hatten es damit nicht anders gehalten. Dafür sprach auch: Die jungen Frauen kleideten sich in jedem Fall sehr körperbetont und signalisierten eindeutig das Bestreben der Partnerwahl zur gemeinsamen Familiengründung. Allerdings waren sie, und das war wiederum verwunderlich, in den wenigsten Fällen Deutsche. Es schien sich zugleich auch um eine Schule für türkische Gastschüler zu handeln. Bereits nach wenigen Gesprächsfetzen formte sich ein erstaunliches, ja nachgerade erfreuliches Bild.
Tatsächlich konnte ich beobachten, wie offenbar bei jenen türkischen Schülern meine Prinzipien als richtig erkannt und zu Direktiven umgesetzt worden waren. Den jungen Türken wurden ganz offensichtlich nur die einfachsten Sprachkenntnisse beigebracht. Korrekter Satzbau war kaum zu erkennen, es glich eher einem Sprachverhau, von geistigem Stacheldraht durchzogen, von mentalen Granaten zerpflügt wie die Schlachtfelder der Somme. Was übrig blieb, mochte allenfalls zur notdürftigen Verständigung reichen, aber nicht zu organisiertem Widerstand. In Ermangelung eines ausreichenden Wortschatzes wurden zudem die meisten Sätze mit ausladenden Gesten ergänzt, eine regelrechte Zeichensprache wurde angewendet gemäß Vorstellungen, wie ich sie selbst entwickelt und gewünscht hatte. Zwar für die Ukraine, für das eroberte russische Gebiet, aber es war natürlich für jede andere beherrschte Bevölkerungsgruppe genauso angemessen. Eine weitere technische Maßnahme schien obendrein dazugekommen zu sein, etwas, das ich freilich nicht hatte vorhersehen können: Jene türkischen Schüler mussten offenbar kleine Ohrstöpsel tragen, die eine Aufnahme unnötiger zusätzlicher Informationen oder Wissensbestandteile verhindern sollten. Das Prinzip war einfach und schien fast zu gut zu funktionieren – einige dieser jungen schülerartigen Gestalten warfen Blicke von einer derartigen geistigen Sparsamkeit, dass man sich kaum vorstellen konnte, welche nützliche Tätigkeit sie eines Tages für die Gesellschaft würden erfüllen mögen. Den Bürgersteig jedenfalls, wie ich wieder mit einem raschen Blick feststellen konnte, fegten weder sie noch sonst jemand.
Als die Schüler beider Rassen meiner ansichtig wurden, ging ein freudiges Wiedererkennen über einige ihrer Gesichter. Es war ganz klar, dass die deutschstämmigen Schüler mich wohl aus dem Geschichtsunterrichte kannten, die türkischstämmigen aus den Untiefen des Fernsehapparates. Es kam, wie es kommen musste. Ich wurde wieder fälschlicherweise identifiziert als der »andere Herr Stromberger aus Switsch«, musste einige Autogramme geben und mehrere Fotos mit diversen Schülern machen lassen. Das Durcheinander war nicht übertrieben, aber doch so beträchtlich, dass ich vorübergehend den Überblick verlor und fast den unsinnigen Eindruck gewann, die deutschen Schüler sprächen denselben zerhackten Sprachsalat. Als ich aus dem Augenwinkel eine weitere verrückte Frau sah, die geradezu akribisch die einzelnen Exkrementteile ihres Hundes auflas, hielt ich den rechten Zeitpunkt für gekommen, mich wieder in die Ruhe und Abgeschiedenheit meines Büros zurückzuziehen.
Ich saß gerade etwa zehn Minuten hinter meinem Schreibtische und betrachtete die neuerliche Wachablösung von Rauchern zu Ratten, als die Türe sich öffnete und jemand eintrat, der möglicherweise erst vor Kurzem jener Gruppe der Schulfrauen unbestimmbaren Alters entwachsen war. Sie trug allerdings auffallend schwarze Kleidung zu ihren langen, dunklen Haaren, die sie glatt zur Seite gescheitelt hatte. Und gewiss, wer hätte eine Vorliebe fürs Dunkle, ja Schwarze besser zu schätzen gewusst als ich, nicht zuletzt bei der SS hatte das immer sehr schneidig ausgesehen. Doch im Gegensatz zu meinen SS-Männern sah die junge Frau fast schon beunruhigend bleich aus, was besonders ins Auge stach, weil sie wiederum einen auffallend dunklen, fast bläulichen Lippenstift bevorzugte.
»Um Gottes willen«, sagte ich aufspringend, »fühlen Sie sich wohl? Ist Ihnen kalt? Setzen Sie sich rasch!«
Sie sah mich unbeirrt ein Kaugummi kauend an, zog dann zwei Stöpsel an Schnüren aus ihrem Ohr und sagte: »Hm?«
Ich begann an der Theorie der Türkenstöpsel zu zweifeln. Die junge Frau strahlte überhaupt nichts Asiatisches aus, ich musste der Sache wohl ein anderes Mal auf den Grund gehen. Und zu frieren schien sie auch nicht, jedenfalls ließ sie einen schwarzen Rucksack von ihrer Schulter gleiten und zog den schwarzen Herbstmantel aus. Darunter trug sie gewöhnliche Kleidung, mit der Einschränkung, dass auch diese von komplett schwarzer Färbung war.