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Ich war gegen Mittag in der Stadt angekommen und hatte die Zeit genutzt, einige lieb gewonnene Orte aufzusuchen. An der Feldherrnhalle verweilte ich kurz in Gedenken an das hier vergossene Blut treuer Kameraden, ich spazierte rührselig am Hofbräukeller vorbei, dann ging ich, ein wenig bange, zum Königsplatz. Doch wie jubelte mein Herz, als es all die herrlichen Bauten dort unversehrt sah: die Propyläen! Die Glyptothek. Die Antikensammlung! Und – ich hatte es kaum zu hoffen gewagt – auch der Führerbau und der Verwaltungsbau standen nach wie vor und wurden sogar noch genutzt! Dass der Königsplatz durch diese begnadeten Bauten erst vollendet wurde, war also nicht einmal diesen demokratischen Gesinnungsrichtern entgangen. Ich schlenderte frohgemut ein wenig durch Schwabing, wie von selbst führten meine Schritte in die Schellingstraße – und dort zu einem unverhofften Wiedersehen. Man kann sich kaum meine übergroße Freude vorstellen, als mich dort das Schild der Osteria Italiana begrüßte – hinter der sich nicht weniger verbarg als mein altes Stammlokal, die Osteria Bavaria. Ich wäre zu gerne eingekehrt, um eine Kleinigkeit zu mir zu nehmen, ein frisches Mineralwasser – allein, die Zeit war bereits stark fortgeschritten, und es galt, ins Hotel zurückzukehren, wo mich des Abends eine Droschke abholte.

Die Ankunft an der Theresienwiese war ernüchternd. Polizei sperrte das Gelände großräumig ab, jedoch sorgte sie weder für Sicherheit noch für Ordnung. Ich konnte kaum aus dem Auto steigen, schon taumelten zwei extrem angetrunkene Gestalten auf mich zu und an mir vorbei auf die Rücksitze.

»Brrralleeiiiinschraaaße!«, murmelte einer von beiden, während der andere schon im Halbschlaf schien. Der Chauffeur, ein kräftiger Mann, entfernte daraufhin zunächst die beiden Trinker mit den Worten »Raus da, des is koa Taxi!« aus seinem Fahrzeug, bevor er mich zum Veranstaltungsort begleiten konnte. »Entschuldigen ’S’«, sagte er zu mir, »des is halt immer des mit dera Scheißwiesn.«

Wir gingen die wenigen Meter über die Straße zum Festgelände. Mein Eindruck: Es war kaum zu fassen, dass jemand auf die Idee kommen konnte, hier irgendeine Zusammenkunft von gesellschaftlicher Relevanz zu inszenieren. An den umzäunten Grundstücken rundum lehnten Betrunkene, die anhaltend auf die andere Seite des Zauns urinierten. Auf manche dieser Gestalten warteten Frauen gleich unsicheren Zustands, die sichtlich gerne dasselbe getan hätten, es aber wohl aus einem unterbewussten Rest Anstand heraus nicht wagten. Ein Pärchen versuchte, an eine Litfasssäule gelehnt Zärtlichkeiten auszutauschen. Er intendierte offenbar, ihr die Zunge in den Mund zu schieben, fand diesen jedoch nicht, weil sie nach unten wegglitt, und begnügte sich dann mit ihrer Nase. Sie öffnete, seine Zudringlichkeiten erwidernd, den Mund und rührte mit der Zunge planlos in der Luft. Dann rutschten beide erst langsam, dann rascher werdend, der Rundung der Säule folgend zu Boden. Sie lachte dabei kreischend und versuchte etwas zu sagen, konnte sich jedoch wegen fehlender Konsonanten nicht verständlich machen. Er kam unter ihr zu liegen, wühlte sich hervor, setzte sich kurz auf und versenkte dann wortlos eine Hand in ihrem Ausschnitt. Es war nicht gewiss, ob sie selbst es bemerkte, drei benachbarte Italiener hingegen sahen es mit Interesse und beschlossen, die Vorgänge aus größerer Nähe zu verfolgen. Für weiteres Aufsehen sorgte das entwürdigende Mühen nicht, auch und gerade nicht bei der Polizei, die damit beschäftigt war, Bewusstlose aufzulesen, von denen es reichlich gab.

Die Theresienwiese besitzt – entgegen ihres Namens – wenige bis gar keine Grünflächen, allein bei den kreisrund sie umgebenden Bäumen sind einige Fetzen Wiese, es hat sich dies seit meinem ersten Aufenthalte hier nicht geändert. In praktisch jedem dieser Wiesenfetzen fand sich, soweit ich das beobachten konnte, ein bis zur Bewusstlosigkeit Betrunkener, und wo noch keiner war, dort sah das Auge ohne große Mühe bereits jemanden hinstreben, wo er sofort zusammenbrach oder sich übergab oder auch beides. »Ist das immer so?«, fragte ich den Chauffeur.

»Freitags ist’s schlimmer«, sagte der Chauffeur gleichmütig. »Scheißwiesn!«

Ich kann es nicht erklären, aber plötzlich fiel mir siedend heiß der Grund für dieses menschliche Debakel ein. Es konnte sich nur um eine Entscheidung der NSDAP von 1933 handeln, die natürlich dazu gedacht gewesen war, die Beliebtheit der Partei beim Volke noch weiter zu steigern – man hatte seinerzeit den Bierpreis festgeschrieben. Anscheinend hatten sich seither allerdings auch andere Parteien auf diese Weise die Beliebtheit sichern wollen.

»Das sieht diesen Idioten ähnlich«, platzte ich heraus. »Haben die denn den Bierpreis nicht erhöht? 90 Pfennige für die Maß sind doch heute ein Witz!«

»Wieso 90 Pfennige?«, fragte der Chauffeur. »Die Maß kostet neun Euro! Mit Trinkgeld zehn.«

Ich sah im Vorübergehen die erstaunlichen Klumpen der Bierleichen. Irgendwie mussten diese Parteien bei aller Misswirtschaft doch einen unerwarteten Wohlstand zuwege gebracht haben. Nun ja, keinen Krieg zu führen sparte natürlich schon den einen oder anderen Betrag. Andererseits: Wenn man den Zustand des Volkes hier sah, musste selbst der Verblendetste zugeben, dass die Deutschen im Jahre 1942 oder 1944, ja selbst in bittersten Bombennächten besser beieinander gewesen waren als an diesem Septemberabend zu Beginn des dritten Jahrtausends.

Wenigstens körperlich.

Ich folgte kopfschüttelnd dem Chauffeur, der mich am Eingang des Festzeltes einer jungen blonden Dame überantwortete und dann zu seinem Fahrzeug zurückkehrte. Sie hatte Kabel am Kopfe, ein Mikrofon vor dem Mund und sagte lächelnd: »Hallo, ich bin die Tschill – Sie sind…?«

»Schmul Rosenzweig«, sagte ich, schon wieder ein wenig genervt. War ich denn so schwer zu erkennen?

»Danke. Rosenzweig… Rosenzweig…«, wiederholte sie, »hab ich hier gar keinen auf der Liste.«

»Himmel noch mal«, fluchte ich, »sehe ich aus wie ein Rosenzweig? Hitler! Adolf!«

»Bitte, sagen Sie das doch gleich«, klagte sie so vibrierend, dass mir meine Bemerkung fast schon wieder leidtat. »Was glauben Sie, wer hier alles herkommt – ich kann doch auch nicht alle kennen! Wenn dann auch noch jeder einen falschen Namen sagt. Vorhin hab ich die Frau vom Becker mit seiner letzten Freundin verwechselt, der hat mich schon total rund gemacht…«