Bedauern ist mir nicht fremd. Ein echter Führer fühlt mit jedem seiner Volksgenossen wie mit einem eigenen Kinde. Aber Mitleid hat noch niemandem geholfen.
»Jetzt nehmen Sie mal Haltung an«, sagte ich scharf. »Sie stehen auf diesem Posten, weil sich Ihr vorgesetzter Offizier auf Sie verlässt! Geben Sie Ihr Bestes, dann wird auch er Ihnen seine Unterstützung nicht versagen!«
Sie sah mich etwas verwirrt an, fasste aber – wie es im Schützengraben nicht selten vorkommt – gerade durch die barsche Ansprache etwas Mut, nickte und führte mich hinein zu der Veranstaltung in der oberen Etage des Zelts, wo ich sogleich der Schriftleiterin zugeleitet wurde. Es handelte sich um eine gereifte blonde Dame in einem Dirndl, mit blitzenden, blauen Augen, die ich mir dank ihrer aufgeweckten Art jederzeit als Büroleiterin in der Parteizentrale vorstellen konnte. Eine Zeitschrift hätte ich ihr nicht notwendigerweise anvertraut, obwohl, eine Klatschpostille mit Gesundheitstipps und Strickmustern, wer weiß, das mochte gerade angehen. Zudem war ihr vermutlich auch an Ansprache gelegen, sie sah aus, als habe sie schon vier oder fünf Kinder großgezogen und wäre wohl inzwischen reichlich einsam zu Hause.
»Ah«, strahlte sie, »der Herr Hitler!« Und ihre Augenwinkel blitzten verschmitzt, als hätte sie einen ganz ausgezeichneten Scherz gemacht.
»Richtig«, sagte ich.
»Mei, das ist aber schön, dass Sie da sind.«
»Ja, ich freue mich auch außerordentlich, gnädige Frau«, sagte ich, und bevor ich mehr antworten konnte, überzog sie ihr Gesicht mit einem noch glänzenderen Strahlen und drehte sich zur Seite, woraus ich schloss, dass nun wohl ein obligatorisches Foto gemacht würde. Ich blickte ernst in dieselbe Richtung, dann gab es einen Blitz und meine Audienz war beendet. Ich entwarf rasch einen kleinen Vierjahresplan, der vorsah, dass die Schriftleiterin schon im nächsten Jahr hier mindestens fünf Minuten mit mir plaudern würde und in dem darauf zwanzig – selbstverständlich nur theoretisch, denn bis dahin hatte ich vor, auf Einladungen wie diese dankend verzichten zu können. Da würde sie dann mit jemandem wie Göring vorliebnehmen müssen.
»Wir sehen uns ja sicher später noch«, flötete die Schriftleiterin, »ich hoffe, Sie haben ein bisschen Zeit für uns.« Worauf mich eine junge, volkstümlich gekleidete Frau weiterzerrte zu mehreren volkstümlich gekleideten Frauen.
Das war überhaupt eine der furchtbarsten Sitten, die mir jemals untergekommen war: Nicht nur die Schriftleiterin oder jene junge Frau, schlicht jede Frau in der gesamten Örtlichkeit fühlte sich verpflichtet, sich in ein Kleid zu pressen, das bemüht dem der Landbevölkerung nachempfunden war, das aber schon der erste Blick als geradezu schauerliche Imitation entlarvte. Nicht, dass man im Bund Deutscher Mädel nicht in eine vergleichbare Richtung gearbeitet hatte, allerdings hatte es sich dabei, wie der Name schon sagt, um Mädel gehandelt. Hier hingegen waren in überwiegender Mehrheit Damen versammelt, deren Mädelalter schon mindestens ein Jahrzehnt zurücklag, wenn nicht mehrere. Ich wurde an einen Biertisch geführt, an dem bereits mehrere Personen saßen.
»Was darf ich bringen?«, fragte eine Kellnerin, deren Dirndl wenigstens die Authentizität einer ehrlichen Arbeitskleidung besaß. »Eine Maß?«
»Ein stilles Wasser«, bat ich.
Sie nickte und verschwand.
»Oho, ein Profi«, sagte ein beleibter Farbiger am Tischende, der neben einer blassen Blonden saß, »aber du mussen bestellen in ein Maßkrug! Das sieht besser aus fur die Fotografen. Glaub mir, ich mach das jetzt seit funfzig Jahre.« Dabei grinste er unglaublich breit und enthüllte unbegreifliche Zahnmengen. »Wie sieht das denn aus – auf der Wiesn mit ein Wasserglas?«
»Ach was, stille Wasser sind tief«, sagte mir gegenüber eine etwas verlebt wirkende Dirndlträgerin, die – wie mir später zu Ohren kam – ihren Lebensunterhalt in einer jener hingeschluderten Spielserien verdiente. Das heißt, wenn sie nicht gerade in einer anderen Sendung mitwirkte, die, wenn ich recht gehört hatte, darin bestand, dass man mit anderen Figuren gleichartiger Drittklassigkeit in ein Urwald ging und sich dabei beobachten ließ, wie man in Gewürm und Exkrementen watete.
»Sie machen ja lustige Sachen, ich hab schon einiges von Ihnen gesehen«, sagte sie, nahm einen Schluck aus ihrem Maßkruge und beugte sich vor, um mir einen Einblick in ihren Ausschnitt zu gewähren.
»Sehr erfreut«, sagte ich, »ich habe auch schon ein oder zwei Dinge von Ihnen gesehen.«
»Muss ich Sie kennen?«, fragte ein junger blonder Mann schräg vis-à-vis.
»Aber sicher«, sagte der Maßkrugneger, während er einem anderen jungen Mann mit einem dicken Filzstift ein Foto signierte, »das ist der Hitler vom Wizgür. Freitags bei MyTV! Oder nein, der hat jetzt ein eigene Sendung. Mussdu gucken, du schmeißt dich weg.«
»Aber ganz anders als sonst, das ist irgendwie auch politisch«, sagte der verlebte Ausschnitt, »das ist fast wie Harald Schmidt!«
»Mit dem kann ich ja nicht so viel anfangen«, sagte der Blonde und wandte sich zu mir. »Sorry, das ist jetzt nicht persönlich, aber Politik, ich finde, wir ändern hier doch eh nichts. Diese ganzen Parteien und so, das ist doch alles eine Suppe.«
»Sie sprechen mir aus der Seele«, sagte ich, während die Kellnerin mein Mineralwasser vor mich stellte. Ich nahm einen Schluck und blickte über den Tisch hinweg hinunter in den Hauptsaal des Festzelts, um dem örtlichen Schunkeln zuzusehen. Niemand schunkelte. Alles stand auf den Biertischen und Bänken, mit Ausnahme derer, die gerade herunterfielen. Man schrie nach einem Anton. Ich versuchte mich zu erinnern, ob Göring nach seinen Festbesuchen jemals von einer derartigen Massenverwahrlosung berichtet hatte, fand aber in meinem Gedächtnis keinerlei Hinweise darauf.
»Wo kommen Sie her«, fragte die verlebte Dame. »Sie sind aus Süddeutschland, nicht wahr?« Der Ausschnitt wurde mir erneut hingehalten wie ein Klingelbeutel.
»Aus Österreich«, sagte ich.
»Wie der echte!«, sagte der Ausschnitt.
Ich nickte und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Man hörte ein Kreischen, dann versuchten einige der Damen in ihren lachhaften Kleidern ebenfalls auf Bierbänke zu steigen und andere zum Mitmachen zu bewegen. Es hatte wenig Animierendes, diese Damen in ihrer zwanghaft guten Laune, die zugleich etwas furchtbar Verzweifeltes ausstrahlte. Vielleicht trog der Schein auch, und es lag nur an den häufig stark geschwollenen Lippen, die den Mundpartien allen Anstrengungen zum Trotz einen schmollenden, sogar leicht beleidigten Zug angedeihen ließ. Ich besah beiläufig die Lippen des verlebten Ausschnitts gegenüber. Sie wirkten normal, immerhin.
»Ich mag die Aufspritzerei auch nicht«, sagte der Ausschnitt.
»Verzeihung?«
»Sie haben doch auf meinen Mund gesehen, oder?«
Sie nahm einen Schluck Bier. »Ich mag da keinen Arzt ranlassen. Obwohl ich mir manchmal denke, ich hätte es damit leichter. Man wird ja nicht jünger.«
»Einen Arzt? Sind Sie krank?«
»Sie sind süß«, sagte der Ausschnitt und beugte sich über den Tisch, dass man den Inhalt hätte auffangen mögen. Sie griff an meine Schulter und drehte sie so, dass wir beide in dieselbe Richtung sahen. Sie roch deutlich nach Bier, wenn auch noch nicht im unangenehmen Ausmaße. Dann begann sie mit dem leicht schwankenden Zeigefinger der Rechten von links nach rechts die verschiedensten Damen abzudeuten: »Mang. Gubisch. Mang. Prag. Weißnich. Mang. Mühlbauer, schon länger her. Weißnich, weißnich. Mühlbauer. Tschechien. Mangmang. Irgend’n Pfuscher, dann Mang, und bezahlt hat die Reparatur RTL 2 oder Pro Sieben oder die Produktionsfirma, für irgend so einen Report.« Dann ließ sie sich wieder auf ihren Sitz sinken und sah mich an.
»Sie haben doch auch was machen lassen, oder?«
»Ich habe was machen lassen?«
»Diese Ähnlichkeit, ich bitte Sie! Die ganze Branche rätselt schon, wer das hingekriegt hat. Obwohl«, und hier nahm sie einen weiteren großen Schluck Bier, »wenn Sie mich fragen: Man sollte den Kerl verklagen.«