»Gnädige Frau, ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden!«
»Von Operationen«, sagte sie genervt. »Und tun Sie nicht so, als hätte es keine gegeben. Das ist doch albern!«
»Selbstverständlich gab es Operationen«, sagte ich irritiert. Sie war auf ihre Art nicht unsympathisch. »Seelöwe, Barbarossa, Zitadelle…«
»Nie gehört. Waren Sie zufrieden?«
Unten im Saal spielte man »Flieger, grüß mir die Sonne«. Das stimmte mich wohlwollend nostalgisch. Ich seufzte. »Anfangs war es ganz in Ordnung, aber dann gab es Komplikationen. Nicht, dass die Engländer besser gewesen wären. Oder die Russen… Aber trotzdem.«
Sie musterte mich. »Man sieht keine Narben«, sagte sie fachmännisch.
»Ich will nicht klagen«, sagte ich, »die tiefsten Wunden schlägt das Schicksal in unseren Herzen.«
»Da haben Sie recht«, sagte sie lächelnd und hielt mir ihr Bier entgegen. Ich erwiderte ihren Gruß mit meinem Mineralwasser. Ich versuchte weiterhin, die seltsame Gesellschaft zu durchschauen. Generell war hier die Jugend kaum vertreten, es galt jedoch, sich so zu benehmen, als sei man gerade erst zwanzig. Daher rührte wohl die Dekolleté-Parade, aber auch das Benehmen Einzelner. Es war befremdlich. Sobald mich einmal dieser Eindruck befallen hatte, ließ er mich nicht mehr los. Es waren all diese Männer, die nicht in der Lage waren, den körperlichen Verfall mannhaft zu ertragen und mit geistiger Arbeit oder auch nur wenigstens einer gewissen Reife zu kompensieren. All diese Frauen, die sich nicht nach getaner Aufzucht ihrer Kinder für das Volk zufrieden zurücklehnten, sondern gebärdeten, als hätten sie jetzt und nur jetzt die unwiederbringliche Gelegenheit, ihre verblühte Jugend für wenige Stunden zurückzufordern. Man hätte jede dieser Figuren am Kragen packen und anschreien mögen: »Reißen Sie sich zusammen! Sie sind eine Schande für sich und für Ihr Vaterland!« Solcherart grübelte ich, als jemand auf den Tisch zutrat und mit den Fingerknöcheln darauf klopfte.
»Gudn Aamd«, sagte er mit dem unverkennbaren Dialekt, der mich immer so sehr an die wunderschöne Stadt Streichers erinnerte. Er hatte lange dunkle Haare, er mochte Mitte vierzig oder älter sein und hatte offenbar seine Tochter dabei.
»Der Lothar!«, sagte der verlebte Ausschnitt und rückte etwas zur Seite. »Setz dich her!«
»Naa«, sagte Lothar, »i bin ner blos ganz kurz do. Ich wolld aber amal sagn, des is fei guud, was du da machsd. Ich hobb die Nummer am letztn Freidooch gsehn, des is scho lusdich, obber des is auch einfach wahr, was du sagsd. Des mit Eurobba un dem ganzn Zeuch! Und in der Wochn dervor, des middi Sozialdings…«
»Sozialschmarotzer«, ergänzte ich.
»… genau«, sagte er, »des und des middi Kinder. Die Kinder sin ja wirglich unser Zuckumbfd. Du bringsd es echd affn Bunkt. Des wolld i der blous amal sagn.«
»Danke«, sagte ich. »Das freut mich. Unsere Bewegung braucht jede Unterstützung. Es würde mich freuen, auch Ihr Fräulein Tochter zu den Unterstützern rechnen zu dürfen?«
Er wirkte plötzlich wütend, dann lachte er hell auf und wandte sich zu seiner Tochter. »Er widder. Und immer so knübblhardd! Genau dou hie, wo’s richdich weh dudd.« Dann klopfte er wieder mit den Knöcheln auf den Tisch: »Tschau, mir sehng sich!«
»Sie wissen aber, dass das nicht seine Tochter ist, oder?«, fragte der Ausschnitt, als Lothar gegangen war.
»Ich habe es angenommen«, sagte ich, »natürlich nicht biologisch, rein rassisch geht das ja nicht, ich nehme an, er hat das Mädchen adoptiert. Ich habe das schon immer befürwortet, bevor so ein armes Ding elternlos im Waisenhaus aufwächst…«
Der Ausschnitt rollte mit den Augen.
»Können Sie auch mal was ganz Normales sagen?«, seufzte sie. »Ich muss mal für kleine Mädchen! Laufen Sie nicht weg! Sie sind vielleicht furchtbar, aber Sie sind wenigstens nicht langweilig.«
Ich nahm einen Schluck Wasser. Ich überlegte, wie ich diesen Abend bewerten sollte, als ich hinter mir eine größere Unruhe spürte, eine Dame mit einem größeren Pulk an Bildberichterstattern. Die Dame schien eine der Hauptattraktionen des Ereignisses zu sein, da sie praktisch ununterbrochen Fotografen und Fernsehkameras anzog. Sie hatte einen südländischen Teint, was ihr Dirndl besonders seltsam wirken ließ, und ihr Dekolleté war geradezu grotesk gefüllt. Konnte man die Gesamterscheinung jedoch noch als ansehnlich in einem sehr vulgären Sinn betrachten, versiegte der Eindruck sofort, sobald sie den Mund öffnete. Sie sprach in einer Tonhöhe jenseits aller mir bekannten Kreissägen. Da man dies auf Fotografien nicht hört, war den Bildberichterstattern derlei natürlich gleichgültig. Sie war gerade dabei, etwas in eine Kamera zu kreischen, als ein Fotograf mich in ihrem Hintergrund erblickte und die Dame an meinen Tisch bugsierte, offenbar um ein Bild von uns gemeinsam zu machen. Der Dame schien dies unangenehm.
Ich kenne diesen Gesichtsausdruck. Man konnte sehen, wie hinter den vordergründig lachenden Augen eine erbarmungslose Rechenmaschine kalkulierte, ob dieses Foto ihr nun einen Vorteil zu sichern vermochte oder nicht. Was mir half, dies zu durchschauen, war, dass in meinem Kopfe dieselbe Kalkulation ablief, allerdings erheblich schneller, zudem mit negativem Ausgange. Sie hingegen schien noch immer zu keinem Ergebnis gekommen, man spürte es an ihrem Zögern. Ihr schienen die Folgen ungewiss und daher ein Risiko, dem sie sich lieber mit einem Scherzwort entzogen hätte. Doch hatte zu diesem Zeitpunkt einer der hinzugekommenen Fotografen bereits das Schlagwort »Die Schöne und das Biest« in die Schlacht geworfen, worauf die Meute der Bildberichterstatter nicht mehr aufzuhalten war. Also trat die exotische Rechenmaschine die Flucht nach vorne an und stürzte sich mit einem kreischenden Lachen auf mich.
Dieser Typ Frau ist nicht neu, es gab ihn bereits vor siebzig Jahren, wenn auch nicht derart prominent. Es waren und sind dies damals wie heute Frauen von maßlosem Geltungsdrang und geringem Selbstwertgefühl, das sie beschwichtigen möchten, indem sie eifrig all ihre vermeintlichen Mängel zu verbergen suchen. Aus unbegreiflichen Gründen hält jener Typus Frau dazu immer nur eine Methode für geeignet – sie versuchen, das Geschehen ins Lächerliche zu ziehen. Es ist der gefährlichste Typ Frau, der einem Politiker begegnen kann.
»Mensch, du«, quietschte sie auf und versuchte sich an meinen Hals zu werfen, »das ist ja supi! Darf ich Adi zu dir sagen?«
»Sie dürfen Herr Hitler zu mir sagen«, erwiderte ich nüchtern.
Manchmal genügt das, um die Leute zu vertreiben. Doch sie setzte sich stattdessen auf meinen Schoß und sagte: »Du, das ist ja dufte, Herr Hitler! Was machen wir beide denn jetzt für die lustigen Fotografen? Hmmmduuu?«
Man hat in Situationen wie diesen alles zu verlieren und nichts zu gewinnen. Und neunundneunzig von hundert Männern hätten hier die Nerven verloren und den Rückzug angetreten, unter Vorwänden wie »Frontbegradigung« oder »Neuaufstellung der Truppenteile«. Ich habe das oft genug beobachtet, damals im russischen Winter 1941, der mit minus 30 Grad, minus 50 Grad so überraschend über meine Soldaten hereingebrochen ist. Damals hat es auch nicht an Leuten gefehlt, die sagten: »Zurück, zurück!« Ich allein habe die Nerven behalten und habe gesagt: Nichts da, keinen Meter zurück! Wer weicht, wird erschossen. Napoleon hat versagt, aber ich allein habe die Front gehalten, und im Frühjahr haben wir die krummbeinigen sibirischen Bluthunde gehetzt wie die Hasen, über den Don, bis Rostow, bis nach Stalingrad und dann so weiter, ich will da jetzt nicht unnötig ins Detail gehen.
Jedenfalls kam ein Rückzug damals nicht infrage und auch nicht in dieser unangenehmen Bierzeltsituation. Die Lage ist niemals aussichtslos, wenn man den fanatischen Willen zum Sieg hat. Man denke nur an das Wunder des Hauses Brandenburg 1762. Zarin Elisabeth stirbt, ihr Sohn Peter schließt Frieden, Friedrich der Große ist gerettet. Hätte Friedrich vorher kapituliert, hätte man kein Wunder, kein Königreich Preußen, kein gar nichts, nur eine tote Zarin. Viele sagen, mit Wundern kann man nicht rechnen. Ich sage: doch! Man muss nur so lange warten, bis sie auch kommen. Bis dahin gilt es eben, in der Stellung auszuharren. Eine Stunde, ein Jahr, ein Jahrzehnt.