Mir wurde kalt vor Entsetzen. Und mir wurde klar, worin meine Mission lag.
Es galt nun, entschlossen auf diesem Wege auszuschreiten. Als Erstes beschloss ich, eine neue Basis zu suchen. Nicht mehr das Hotel sollte meine Heimstatt sein – ich brauchte einen richtigen Heimatstandort.
xxxiii.
Mir schwebte etwas vor wie damals am Prinzregentenplatz in München. Eine Wohnung, groß genug für mich, für Gäste, für Personal, nach Möglichkeit in einer ganzen, abgeschlossenen Etage, aber nicht in einem einzelnen Hause. Eine Villa mit Garten, womöglich noch mit dichtem Buschwerk – derlei ist für den politischen Gegner viel zu leicht zu überwachen oder auch zu überfallen. Nein, ein großes Haus, stadtnah, in einer belebten, zentrumsartigen Gegend, das hat noch immer seine Vorteile. Und wenn sich direkt daneben noch ein Theater befinden sollte, sollte es mich nicht stören.
»Ihnen gefällt es wohl bei uns nicht mehr?«, hatte die inzwischen völlig ungehemmt korrekt grüßende Mitarbeiterin meines Hotels gefragt, mit scherzhaftem Untertone, aber zugleich mit einem deutlich spürbaren, ehrlichen Bedauern.
»Ich habe schon daran gedacht, Sie mitzunehmen«, antwortete ich. »Früher hat mir meine Schwester den Haushalt geführt, leider lebt sie nicht mehr. Wenn ich Ihnen Ihr Hotelgehalt zahlen könnte, würde ich Ihnen diese Tätigkeit gerne anbieten.«
»Danke«, meinte sie, »ich mag die Abwechslung hier. Ist aber trotzdem schade.«
Früher hätte sich jemand für mich um die Wohnungssuche gekümmert, jetzt musste ich es selbst in die Hand nehmen. Einerseits war das interessant, weil es mich der Gegenwart wieder und noch näher brachte. Andererseits war da dieses widerliche Maklergesocks.
Es zeigte sich rasch, dass man ohne Makler nicht an eine auch nur halbwegs repräsentative Wohnung von 400 bis 450 Quadratmetern kam. Es zeigte sich etwas weniger rasch, dass es auch mit diesem Maklergewürm fraglich war. Es war geradezu erschütternd, wie wenig diese Abgesandten der Miethölle von ihren eigenen Wohnungen wussten. Selbst nach sechzig Jahren Abwesenheit vom aktuellen Immobilienmarkt war ich jederzeit in der Lage, den Sicherungskasten in einem Drittel der Zeit zu entdecken, die der gesandte »Fachmann« benötigte. Ich ging nach der dritten Firma dazu über, auf sogenannte erfahrene Kollegen zu bestehen, weil man sonst überhaupt nur 16-Jährige in zu großen Anzügen bekam. Diese armseligen Buben sahen aus, als hätte man sie von der Schulbank weg zum Maklervolkssturm geholt.
Im vierten Anlaufe wurde mir tatsächlich ein passendes Objekt im Norden Schönebergs angeboten. Ein ausgedehnter Spaziergang von hier würde mich zum Regierungsviertel führen, auch das sprach für das Angebot – man konnte ja nicht wissen, wie schnell die Nähe dorthin nötig würde.
»Sie kommen mir bekannt vor«, sagte der ältere Makler, während er mir das Dienstbotenzimmer in der Nähe der Küche zeigte.
»Hitler, Adolf«, sagte ich knapp und inspizierte fachkundig ein paar leere Schränke.
»Richtig«, sagte er, »jetzt, wo Sie’s sagen! Ohne Uniform – Sie müssen entschuldigen. Außerdem hatte ich immer gedacht, Sie nähmen den Bart ab.«
»Wieso denn das?«
»Na ja, nur so. Ich ziehe ja zu Hause auch als Erstes die Schuhe aus.«
»Und ich ziehe meinen Bart aus?«
»Hatte ich gedacht, ja…«
»Aha. Gibt es hier einen Sportraum?«
»Einen Fitnessraum? Die letzten Mieter hatten keinen, aber davor war hier ein Jurymitglied von einer Castingsendung eingemietet, der hat den Raum dort drüben genutzt.«
»Gibt es irgendwelche Dinge, die ich wissen sollte?«
»Wie zum Beispiel?«
»Bolschewistische Nachbarn?«
»Die gab’s vielleicht in den dreißiger Jahren. Aber dann hat ja… dann haben ja Sie… wie soll ich sagen?«
»Ich weiß schon, was Sie meinen«, sagte ich, »und sonst?«
»Na ja, sonst…«
Ich dachte wehmütig an Geli. »Ich möchte keine Selbstmörderwohnung mehr«, erklärte ich bestimmt.
»Seit wir dieses Objekt verwalten, hat sich hier niemand umgebracht. Und vorher auch nicht«, gab der Makler eilfertig an. »Glaube ich jedenfalls.«
»Die Wohnung ist gut«, sagte ich trocken, »der Preis ist inakzeptabel. Sie gehen um 300 Euro herunter, dann sind wir im Geschäft.« Dann wandte ich mich zum Gehen. Es ging auf halb acht Uhr. Die Dame Bellini hatte mich nach meiner gelungenen Premiere mit Opernkarten überrascht: Man gab die »Meistersinger von Nürnberg«, und sie hatte dabei sogleich an mich gedacht. Sie hatte sogar versprochen, die Oper mit mir anzusehen – mir zuliebe, wie sie betonte, denn sie lehne Wagner üblicherweise ab.
Der Makler versprach, Rücksprache über die Vermietung zu halten. »Abschläge sind da eigentlich nicht vorgesehen«, meinte er skeptisch.
»Derlei ist stets reversibel, wenn man einen Hitler zu seinen Kunden zählen kann«, sagte ich zuversichtlich, bevor ich mich auf den Weg machte.
Es war ungewöhnlich mild für den späten November. Der Himmel war längst düster, um mich herum brummte und rauschte die Großstadt. Für einen kurzen Moment bemächtigte sich wieder die alte Hektik meiner, die Furcht vor den asiatischen Horden, der dringende Wunsch, den Rüstungsetat zu erhöhen. Dann wich die Unruhe dem guten Gefühl, dass die Katastrophe in den letzten sechzig Jahren nicht über uns hereingebrochen war, dass die Vorsehung doch mit Sicherheit den richtigen Moment gewählt hatte, mich zur Tat zu rufen und mir dabei gewiss nicht so wenig Zeit belassen würde, dass ich nicht einmal zu Wagner in die Oper gehen könnte.
Ich knöpfte meinen Mantel auf und ging entspannt durch die Straßen. Manche Geschäfte ließen größere Mengen an Tannen- und Fichtenzweigen anliefern. Als mir der Trubel etwas zu viel wurde, wich ich in die kleineren Nebenstraßen aus. Ich dachte über Verbesserungen einiger Details meiner Sendung nach, schlenderte an einem beleuchteten Sportzentrum vorbei. Große Teile des Volkes waren körperlich in einer ausgezeichneten Verfassung – allerdings waren dies noch zu oft Frauen. Nun erleichtert ein wohltrainierter Körper zwar manche Geburt, er erhöht die Widerstandskraft und Gesundheit der Mutter, aber letzten Endes geht es ja nun wirklich nicht um die Aufzucht von Hunderttausenden von Flintenweibern. Der Anteil der jungen Männer in den Sportstätten musste eindeutig noch weiter erhöht werden. So sinnierte ich vor mich hin, als mir zwei Männer in den Weg traten.
»Du Judenschwein«, sagte der eine.
»Glaubst du, wir sehen einfach zu, wie du Deutschland beleidigst?«, fragte der zweite.
Ich nahm langsam den Hut ab und zeigte mein Gesicht im Lichte der Straßenlaternen.
»Zurück ins Glied, ihr Schweinehunde«, sagte ich ungerührt, »oder ihr endet wie Röhm!«
Einen Moment lang sagte niemand etwas. Dann stieß der zweite zwischen den Zähnen hervor: »Was musst du für ein krankes Schwein sein! Erst lässt du dir dieses aufrechte Gesicht hinoperieren, dann fällst du damit Deutschland in den Rücken!«
»Ein krankes, lebensunwertes Schwein«, sagte der erste. Jetzt blitzte etwas in seiner Hand auf. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit raste seine Faust auf meinen Kopf zu. Ich versuchte Haltung und Stolz zu wahren, ich wich dem Schlag nicht aus.