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Es hätte mir eine Mahnung sein sollen. Doch wenn ich damals schon von den zahllosen Mühen, den bitteren Opfern gewusst hätte, die ich in der Folge würde bringen müssen, von den harten Qualen des ungleichen Kampfes – ich hätte meinen Schwur nur umso kräftiger in doppelter Lautstärke getan.

v.

Schon die ersten Schritte fielen mir schwer. Es war dies jedoch keine Frage fehlender Kraft, tatsächlich kam ich mir in der geliehenen Kleidung vor wie ein Idiot. Hose und Hemd gingen noch an. Der Krämer hatte mir ein Paar saubere blaue Baumwollhosen mitgebracht, die er »Schiens« nannte, dazu ein sauberes rot kariertes Baumwollhemd. Ich hatte eigentlich eher mit Anzug und Hut gerechnet, aber bei näherer Betrachtung des Zeitungskrämers musste ich das im Nachhinein als illusionär abtun. Dieser Mann trug in seinem eigenen Kiosk keinen Anzug, und, soweit ich hatte beobachten können, war auch seine Kundschaft wenig bürgerlich gekleidet. Hüte, dies nur der Vollständigkeit halber, waren offenbar generell unbekannt. Ich beschloss, dem Ensemble mit meinen bescheidenen Mitteln so weit als möglich Würde zu verleihen, indem ich entgegen seiner bizarren Vorstellung, das Hemd einfach lose über der Hose zu tragen, das Hemd sogar besonders tief in meinen Hosenbund schob. Mit meinem Gürtel gelang es mir, die etwas zu weite, aber stramm hochgezogene Hose ordentlich zu befestigen. Dann schnallte ich meinen Riemen über die rechte Schulter. Der Gesamteindruck war zwar nicht der einer deutschen Uniform, aber doch in jedem Falle wenigstens der eines Mannes, der sich anständig zu kleiden wusste. Die Schuhe hingegen blieben ein Problem.

Der Zeitungskrämer hatte, wie er mir versicherte, in Ermangelung anderer Bekannter mit passender Größe ein eigenwilliges Paar von seinem halbwüchsigen Neffen mitgebracht, wobei allerdings fraglich war, ob man sie Schuhe nennen konnte. Sie waren weiß, riesig, mit gewaltigen Sohlen, sodass man in ihnen lief wie ein Zirkusclown. Ich musste sehr an mich halten, um diese Spottschuhe nicht an den trotteligen Krämerskopf zu schleudern.

»Das trage ich nicht«, betonte ich, »darin sehe ich aus wie ein dummer August!«

Er machte, wohl gekränkt, eine Bemerkung dahingehend, dass er mit meiner Art, das Hemd zu tragen, auch nicht einverstanden sei, aber ich sah es ihm nach. Ich legte die Hosenbeine eng an meine Waden und schob die Schienshose in meine Stiefel.

»Sie wollen wohl partout nicht aussehen wie normale Leute?«, fragte der Zeitungskrämer.

»Wo wäre ich, wenn ich immer alles so gemacht hätte wie die sogenannten normalen Leute?«, gab ich zurück. »Und wo wäre Deutschland?«

»Hm«, sagte der Zeitungskrämer beschwichtigt und zündete sich wieder eine Zigarette an, »so kann man’s auch sehen.«

Er legte meine Uniform zusammen und schob sie in einen interessanten Beutel. Auffällig daran war nicht nur das Material, eine Art sehr dünner Kunststoff, offenbar viel strapazierfähiger und flexibler als Papier. Interessant war der Aufdruck: »Media Markt« stand darauf, anscheinend hatte der Beutel zuvor als Verpackung für die Idiotenzeitung gedient, die ich unter jener Parkbank gesehen hatte. Das zeigte, dass der Zeitungskrämer im Grunde seines Wesens durchaus vernünftig war – den nützlichen Beutel hatte er behalten, den schwachsinnigen Inhalt aber weggeworfen. Der Zeitungskrämer drückte mir den Beutel in die Hand, beschrieb mir den Weg zur Reinigung und sagte fröhlich: »Viel Spaß!«

Also machte ich mich auf, wenn auch nicht sogleich zur Reinigung. Mein erster Weg führte mich zurück zu jenem Areale, auf dem ich erwacht war. Trotz meiner völligen Unverzagtheit konnte ich nicht die vage Hoffnung leugnen, dass mich vielleicht doch noch jemand aus dem Einst begleitet hatte in das Heute. Ich fand die vertraute Parkbank, auf der ich erstmals gerastet hatte, überquerte sehr vorsichtig die Straße, um zwischen den Gebäuden hindurch den Weg zu jener Brache einzuschlagen. Dort war es, am späteren Vormittag, still. Die Hitlerbuben spielten nicht, sondern lernten wohl. Das Areal war leer. Die Tüte in der Hand, ging ich zögerlich auf die nunmehr kaum noch vorhandene Pfütze zu, neben der ich erwacht war. Alles war still, so still es jedenfalls in einer Großstadt sein konnte. Man hörte leisen Verkehrslärm, aber auch eine Hummel.

»Psst«, sagte ich, »psst!«

Nichts geschah.

»Bormann«, rief ich nun leise. »Bormann! Sind Sie hier irgendwo?«

Eine Windbö stob durch das Gelände, eine leere Dose klapperte gegen eine zweite. Sonst rührte sich nichts.

»Keitel?«, rief ich nun. »Goebbels?«

Aber niemand antwortete. Nun gut. So war es sogar noch besser. Der Starke ist am mächtigsten allein. Wie ehedem galt dies auch in dieser Stunde, jetzt mehr denn je. Hatte ich doch nunmehr Klarheit. Alleine hatte ich das Volk zu retten. Alleine die Erde und alleine die Menschheit. Und der erste Schritt auf dem Wege des Schicksals führte in die Reinigung.

Meinen Beutel in der Hand, ging ich nun entschlossen zurück zu meiner alten Schulbank, auf der ich die kostbarsten Lektionen meines Lebens gelernt hatte: der Straße. Aufmerksam folgte ich dem Wege, verglich Häuserzeilen und Straßenzüge, prüfte, wog, wägte, wagte. Eine erste Bestandsaufnahme fiel dabei durchaus positiv aus: Das Land oder zum Mindesten die Stadt wirkte trümmerfrei, aufgeräumt, insgesamt konnte man ihr einen zufriedenstellenden Vorkriegszustand bescheinigen. Die neuen Volkswagen fuhren offenbar zuverlässig, leiser als früher, auch wenn sie ästhetisch nicht nach jedermanns Geschmack waren. Was sofort jedoch dem klaren Blick ins Auge stach, waren zahlreiche irritierende Schmierereien an allen Wänden. Gewiss war mir die Technik vertraut, bereits damals in Weimar hatten kommunistische Helfershelfer ihren bolschewikischen Unfug überall hingekleckst. Und nicht zuletzt davon hatte ich selbst ja auch gelernt. Aber damals konnte man die Parolen beider Seiten immerhin noch lesen. Jetzt, stellte ich fest, waren zahlreiche Botschaften, die der Urheber offenbar für wichtig genug erachtete, um die Häuserfassaden braver Bürger damit zu entstellen, schlichtweg nicht zu entziffern. Ich konnte nur hoffen, dass dies an der Unbildung möglicherweise linken Gesindels lag, aber nachdem sich die Leserlichkeit der Botschaften mit Fort-dauer meines Weges nicht und nicht änderte, musste ich annehmen, dass sich dahinter womöglich auch so wichtige Mitteilungen wie »Deutschland erwache« verbargen oder »Sieg heil!«. Angesichts von so viel Dilettantismus kochte in mir sogleich ein gewaltiger Zorn hoch. Da fehlte doch eindeutig die führende Hand, die straffe Organisation. Besonders ärgerlich war dies angesichts der Tatsache, dass manche dieser Schriften teilweise sogar mit viel Farbe und sichtlicher Mühe verfertigt worden waren. Oder hatte man in meiner Abwesenheit für politische Parolen eine eigene Schrift entwickelt? Ich entschloss mich, der Sache auf den Grund zu gehen, trat auf eine Dame zu, die an der Hand ihr Kind führte.

»Entschuldigen Sie die Störung, gnädige Frau«, sprach ich sie an und wies mit der freien Hand auf eine beliebige der Wandaufschriften, »was steht da?«

»Woher soll ich das wissen?«, fragte die Dame und bedachte mich mit einem seltsamen Blick.

»Es kommt also auch Ihnen diese Schrift seltsam vor?«, forschte ich weiter.

»Die Schrift schon auch«, sagte die Dame zögerlich und zerrte dann ihr Kind weiter, »aber ist mit Ihnen alles in Ordnung?«

»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte ich, »ich gehe nur rasch zur Reinigung.«

»Sie sollten lieber zum Friseur!«, rief die Frau.

Ich wandte den Kopf zur Seite, beugte ihn hinunter zur Scheibe eines der neumodischen Automobile und musterte mein Antlitz. Der Scheitel saß, wenn auch nicht exzellent, so doch gut, und der Bart würde wohl in einigen Tagen etwas nachgeschnitten werden müssen, aber insgesamt war ein Friseurbesuch fürs Erste nicht kriegsentscheidend. Für eine gründlichere Leibwäsche, so kalkulierte ich bei der Gelegenheit, war der kommende Tag oder auch Abend strategisch vermutlich am günstigsten. So machte ich mich denn wieder auf, vorbei an dieser allgegenwärtigen Wandpropaganda, die genauso gut in chinesischen Zeichen dort hätte stehen können. Was mir dabei jedoch ebenfalls auffiel, war, dass offenbar die Bevölkerung in bewundernswertem Umfange mit Volksempfängern ausgerüstet war. An zahllosen Fenstern waren Radar-Schüsseln angebracht, die zweifellos dem Rundfunk dienten. Und wenn es mir nun gelänge, über den Rundfunk zu sprechen, dann musste die Gewinnung neuer, überzeugter Volksgenossen wohl ein Leichtes sein. Hatte ich nicht vergeblich einem Radioprogramm gelauscht, das so klang, als würden betrunkene Musiker das spielen, lallende Sprecher das vorlesen, was hier so unverständlich an die Wand geschmiert worden war? Ich brauchte nur verständliches Deutsch zu sprechen, das musste schon genügen – eine Kleinigkeit. Beschwingt, zuversichtlich schritt ich aus, sah schon in kurzer Ferne das Schild für einen »Blitzreinigung’s-Service Yilmaz«.