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»Ich werde... vielleicht... heute nicht hingehen«, erwiderte Natascha langsam und leise, fast flüsternd. »Ich... bin nicht wohl«, fügte sie hinzu und wurde blaß wie Leinwand.

»Du solltest doch lieber hingehen, Natascha; du wolltest es doch vorhin selbst und hast ja deinen Hut mitgebracht. Bete, Nataschenka, bete, daß dir Gott deine Gesundheit wiedergeben möge!« redete Anna Andrejewna ihrer Tochter zu und blickte sie schüchtern an, als ob sie sich vor ihr fürchte.

»Ja, ja, geh hin; da hast du auch gleichzeitig einen Spaziergang«, fügte der Alte hinzu und musterte ebenfalls beunruhigt das Gesicht der Tochter. »Deine Mutter hat recht. Wanja wird dich begleiten.«

Es kam mir so vor, als ob ein bitteres Lächeln über Nataschas Lippen huschte. Sie trat ans Klavier, nahm ihren Hut und setzte ihn auf; die Hände zitterten ihr. Alle ihre Bewegungen vollzogen sich wie bewußtlos, gerade wie wenn sie nicht wüßte, was sie tat. Der Vater und die Mutter beobachteten sie unverwandt.

»Lebt wohl!« sagte sie kaum hörbar.

»Aber, mein Engel«, erwiderte die Mutter, »wozu sollen wir in dieser Weise Abschied nehmen; es ist ja doch kein weiter Weg! Aber wenigstens wird dich der Wind ein bißchen anwehen; sieh nur, wie blaß du bist! Ach, das hatte ich ganz vergessen (ich vergesse aber auch alles!): ich habe dir ja ein Amulett zurechtgemacht; ich habe ein Gebet hineingenäht, mein Engel; eine Nonne aus Kiew hat es mich im vorigen Jahr gelehrt; es ist ein wirksames Gebet; ich habe es erst vorhin hineingenäht. Lege es an, Natascha! Vielleicht macht dich Gott der Herr wieder gesund. Du bist ja unsere Einzige.«

Sie zog aus ihrem Arbeitskörbchen Nataschas goldenes Brustkreuz heraus; an demselben Bändchen, an dem das Kreuz hing, war das soeben genähte Amulett befestigt. »Trage es mit Gesundheit!« fügte sie hinzu, indem sie der Tochter das Kreuz umhängte und sie bekreuzte: »Früher bekreuzte ich dich jeden Abend so beim Schlafengehen und sprach ein Nachtgebet, und du sprachst es mir nach. Aber jetzt bist du eine andere geworden, und Gott vergönnt dir keine Ruhe des Gemütes. Ach, Natascha, Natascha! Auch meine mütterlichen Gebete vermögen dir nicht zu helfen!«

Die alte Frau fing an zu weinen.

Natascha küßte ihr schweigend die Hand und tat einen Schritt auf die Tür zu; aber plötzlich kehrte sie schnell wieder um und trat zu ihrem Vater. Ihre Brust ging in heftiger Bewegung auf und nieder.

»Papachen, bekreuzen auch Sie Ihre Tochter!« bat sie mit versagender Stimme und ließ sich vor ihm auf die Knie nieder.

Wir standen alle ganz erstaunt da über ihr unerwartetes, allzu feierliches Benehmen. Eine kleine Weile blickte der Vater sie ganz bestürzt an. »Natascha, mein Kind, mein liebes Töchterchen, was ist dir?« rief er endlich, und die Tränen stürzten ihm aus den Augen. »Worüber grämst du dich? Worüber weinst du Tag und Nacht? Ich sehe es ja alles; in der Nacht schlafe ich nicht; ich stehe auf und horche an deinem Zimmer! Sage mir alles, Natascha; öffne mir altem Manne dein ganzes Herz, und wir...«

Er sprach nicht zu Ende, hob sie auf und schloß sie innig in seine Arme. Sie drückte sich krampfhaft gegen seine Brust und verbarg ihren Kopf an seiner Schulter.

»Es ist nichts, es ist nichts, es hat keine Ursache... ich bin nicht wohl«, versicherte sie, beinah erstickend an innerlichen, unterdrückten Tränen.

»Gott segne dich, wie ich dich segne, mein liebes Kind, mein teures Kind!« sagte der Vater. »Er verleihe dir für alle Zeit den Frieden der Seele und halte alles Leid von dir fern! Bitte Gott, mein Kind, daß mein sündiges Gebet zu ihm dringen möge!«

»Nimm auch meinen Segen, auch meinen Segen!« fügte die Mutter, in Tränen zerfließend, hinzu.

»Lebt wohl!« flüsterte Natascha.

An der Tür blieb sie stehen, blickte noch einmal alle an, wollte noch etwas sagen, konnte es aber nicht und verließ schnell das Zimmer. Ich eilte ihr, Schlimmes ahnend, nach.

Achtes Kapitel

Schweigend ging sie dahin, schnellen Schrittes, mit gesenktem Kopf und ohne mich anzusehen. Aber als wir die Straße hinuntergegangen und in die Uferstraße gelangt waren, blieb sie auf einmal stehen und ergriff meine Hand.

»Ich ersticke!« flüsterte sie. »Ich habe solche Herzbeklemmung!... Ich ersticke!«

»Kehre um, Natascha!« rief ich erschrocken.

»Siehst du denn nicht, Wanja, daß ich ganz weggegangen bin, daß ich sie verlassen habe und nie wieder zurückkehre?« sagte sie und sah mich dabei mit unbeschreiblichem Kummer an.

Mein Herz krampfte sich zusammen. Das alles hatte ich schon, als ich zu ihnen hinging, geahnt; das alles hatte ich wie in einem Nebel vielleicht schon lange vor diesem Tag vorhergesehen; aber dennoch trafen mich ihre Worte jetzt wie ein Donnerschlag.

Wir gingen traurig die Uferstraße entlang. Ich konnte nicht reden; ich dachte hin und her und wurde ganz wirr im Kopf. Mir war ganz schwindlig. Die Sache erschien so ungeheuerlich, so unmöglich!

»Du verurteilst mich, Wanja?« sagte sie endlich.

»Nein, aber... aber ich glaube es nicht; es kann nicht sein!« erwiderte ich, ohne zu wissen, was ich redete.

»Doch, Wanja; es ist so! Ich habe sie verlassen und weiß nicht, was aus ihnen werden wird... ich weiß auch nicht, was aus mir werden wird!«

»Gehst du zu ihm, Natascha? Ja?«

»Ja!« antwortete sie.

»Aber das ist unmöglich!« rief ich ganz außer mir. »Siehst du nicht ein, daß das unmöglich ist, meine arme Natascha? Das ist ja Wahnsinn! Du tötest ja deine Eltern und richtest dich selbst zugrunde! Siehst du das nicht ein, Natascha?«

»Ich sehe es ein; aber was kann ich tun? Es hängt nicht von meinem Willen ab!« antwortete sie, und aus ihren Worten klang eine solche Verzweiflung heraus, als ob sie zur Richtstätte ginge.

»Kehre um, kehre um, solange es noch nicht zu spät ist!« flehte ich sie an, und ich flehte um so dringender und um so inständiger, je mehr ich mir selbst bewußt war, daß meine Bitten in diesem Augenblick völlig zwecklos und töricht waren. »Verstehst du auch wohl, Natascha, was du deinem Vater antust? Hast du das auch bedacht? Sein Vater ist deines Vaters Feind; der Fürst hat ja deinen Vater beleidigt, ihn der Unterschlagung beschuldigt, ihn einen Dieb genannt. Sie prozessieren miteinander... Und was rede ich? Das ist noch das wenigste; aber weißt du auch, Natascha (o Gott, du weißt das ja alles!), weißt du auch, daß der Fürst deinen Vater und deine Mutter verdächtigt hat, sie selbst hätten dich absichtlich mit Aljoscha zusammengebracht, als Aljoscha bei euch auf dem Land wohnte. Bedenke doch, stelle dir doch nur vor, wie dein Vater damals unter dieser Verleumdung gelitten hat! Er ist ja in diesen zwei Jahren ganz grau geworden; sieh ihn doch nur an! Aber die Hauptsache ist: du weißt das ja alles, Natascha, o du mein Gott! Ich rede gar nicht einmal davon, welch ein Schmerz es für sie beide sein wird, dich für immer zu verlieren! Du bist ja ihr größter Schatz; du bist alles, was ihnen für die Tage des Alters geblieben ist. Ich will davon gar nicht reden, denn du mußt das ja selbst wissen; aber denke daran, daß dein Vater überzeugt ist, du seiest von diesen hochmütigen Leuten grundlos verleumdet und beleidigt, ohne daß ihr dafür Rache nehmen könntet. Jetzt aber, gerade jetzt ist das alles von neuem aufgeflammt, und diese ganze alte, schmerzliche Feindschaft ist dadurch noch gesteigert worden, daß ihr Aljoscha bei euch aufgenommen habt. Der Fürst hat deinen Vater noch einmal beleidigt; in dem Herzen des alten Mannes kocht noch der Grimm über diese neue Kränkung, und da werden auf einmal all diese Beschuldigungen jetzt als gerechtfertigt erscheinen! Jeder, dem die Sache bekannt ist, wird jetzt dem Fürsten recht geben und dich und deinen Vater verurteilen. Was wird jetzt aus ihm werden? Das wird ihn mit einem Schlag töten! Schmach und Schande kommen über ihn, und durch wen? Durch dich, seine Tochter, sein einziges, teures Kind! Und deine Mutter? Sie wird ihren Gatten nicht überleben... Natascha, Natascha! Was tust du? Kehre um! Komm zur Besinnung!«