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Sie schwieg; endlich blickte sie mich wie mit stillem Vorwurf an, und es lag in diesem Blick ein so tiefer Schmerz, ein so schweres Leid, daß ich erkannte, wie sehr ihr auch ohne meine Worte das wunde Herz blutete. Ich erkannte, wie schwer ihr dieser Entschluß geworden war und wie sehr ich sie durch meine nutzlosen, zu spät kommenden Bitten quälte und marterte; ich sah das alles ein; dennoch konnte ich mich nicht halten und sprach weiter. »Du hast doch selbst noch soeben zu Anna Andrejewna gesagt, du würdest vielleicht nicht zum Abendgottesdienst gehen. Also wolltest du doch dableiben und warst noch nicht völlig entschlossen?«

Sie antwortete nur mit einem bitteren Lächeln. Wozu hatte ich auch diese Frage gestellt? Ich konnte ja doch wissen, daß alles schon unwiderruflich entschieden war. Aber freilich war ich ebenfalls meiner nicht mächtig. »Hast du ihn denn wirklich so liebgewonnen?« rief ich und blickte sie voll Entsetzen an; ich wußte selbst kaum, was ich fragte.

»Was soll ich dir darauf antworten, Wanja? Du siehst ja, wie es steht: er hat mir befohlen zu kommen, und da bin ich nun hier und warte auf ihn«, erwiderte sie mit demselben bitteren Lächeln.

»Aber höre doch, höre doch nur«, begann ich, nach einem Strohhalm greifend, wieder zu bitten, »das läßt sich alles noch in Ordnung bringen; das läßt sich auf eine andere Weise einrichten, auf eine ganz andere Weise! Dabei brauchst du nicht von zu Hause fortzugehen. Ich will dir sagen, wie es zu machen ist, Nataschenka. Ich übernehme es, alles für euch zu bewerkstelligen, alles, auch die Zusammenkünfte und alles... Nur geh nicht von zu Hause fort! Ich werde eure Korrespondenz vermitteln; warum sollte ich das nicht tun? Es wird immer noch besser sein als der jetzige Zustand. Ich werde das einzurichten verstehen; ich werde euch beiden Dienste erweisen; ihr sollt sehen, daß ich das tun werde... Und du wirst dich nicht zugrunde richten, Nataschenka, wie du es jetzt vorhast... Denn so richtest du dich vollständig zugrunde, vollständig! Sag »ja«, Natascha, und alles wird schön und glücklich gehen, und ihr werdet einander lieben, soviel ihr wollt... Und wenn die Väter aufhören werden, miteinander zu streiten (denn dahin wird es mit Sicherheit kommen), dann...« »Laß es gut sein, Wanja, hör auf!« unterbrach sie mich, indem sie mir kräftig die Hand drückte und unter Tränen lächelte. »Du guter, guter Wanja! Du guter, ehrlicher Mensch! Und von dir selbst sagst du kein Wort! Ich bin es gewesen, die unser Verhältnis gelöst hat, und dabei hast du mir doch alles verziehen und denkst nur an mein Glück. Du willst unsere Korrespondenz vermitteln...«

Sie brach in Tränen aus.

»Ich weiß ja, Wanja, wie du mich geliebt hast, wie du mich immer noch liebst, und nicht einen Vorwurf hast du mir in dieser ganzen Zeit gemacht, nicht ein bitteres Wort zu mir gesagt! Aber ich, ich! O Gott, wie schwer habe ich mich gegen dich vergangen! Denkst du wohl noch an die Zeit, Wanja, an die Zeit, als du und ich zusammengehörten? Ach, wäre ich ihm nie begegnet, hätte ich ihn nie kennengelernt! Dann würde ich mit dir zusammen leben, Wanja, mit dir, du mein Guter, Lieber!... Nein, ich bin deiner nicht wert! Du siehst ja, was für eine ich bin: in einem solchen Augenblick erinnere ich dich an unser früheres Glück, und du leidest doch ohnehin schon genug! Drei Wochen lang bist du nicht zu uns gekommen; aber ich schwöre dir, Wanja, auch nicht ein einziges Mal kam mir der Gedanke in den Kopf, daß du mir vielleicht fluchtest und mich haßtest. Ich wußte, weshalb du fortbliebst: du wolltest uns nicht stören und für uns ein lebendiger Vorwurf sein, und auch dir selbst mußte es ja peinlich sein, uns anzusehen. Aber wie habe ich auf dich gewartet, Wanja, wie habe ich auf dich gewartet! Höre, Wanja, obwohl ich Aljoscha wie eine Irre, wie eine Wahnsinnige liebe, so liebe ich dich als meinen Freund vielleicht doch noch mehr. Ich fühle schon, ich weiß schon, daß ich ohne dich nicht leben kann; du bist mir notwendig; dein Herz ist mir notwendig, dein goldenes Herz... Ach, Wanja! Was für eine bittere, schwere Zeit kommt jetzt!«

Sie zerfloß in Tränen. Ja, es war ihr schwer ums Herz!

»Ach, wie ich mich danach sehnte, dich zu sehen!« fuhr sie, ihre Tränen unterdrückend, fort. »Wie du abgemagert bist, und wie krank und blaß du aussiehst; bist du wirklich krank gewesen, Wanja? Und ich habe noch gar nicht danach gefragt! Ich rede immer nur von mir. Nun, wie steht es jetzt mit deinen schriftstellerischen Angelegenheiten? Was macht dein neuer Roman? Kommst du gut mit ihm voran?«

»Was kommt es jetzt auf meine Romane und auf mich an, Natascha! Und was ist von meinen Angelegenheiten zu sagen? Es geht einigermaßen damit, so leidlich; lassen wir das beiseite! Was ich noch sagen wollte, Natascha: hat er das denn selbst verlangt, daß du zu ihm kommen möchtest?«

»Nein, nicht er allein; größtenteils ist es mein Gedanke. Allerdings hat er es gesagt; aber auch ich selbst... Siehst du, lieber Freund, ich werde dir alles erzählen: sein Vater hat ihm eine Frau ausgesucht, ein reiches, sehr vornehmes Mädchen, und sie ist auch mit sehr vornehmen Leuten verwandt. Sein Vater will durchaus, daß Aljoscha sie heiratet, und er ist, wie du weißt, ein sehr geschickter Intrigant; er hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, denn er sagt, eine so günstige Gelegenheit komme in zehn Jahren nicht wieder; solche Konnexionen und ein solches Vermögen... Sie soll auch sehr schön sein und gebildet und von gutem Charakter, kurz, ein in jeder Hinsicht ausgezeichnetes Mädchen; Aljoscha ist schon ganz entzückt von ihr. Außerdem möchte sein Vater im eigenen Interesse ihn so bald wie möglich loswerden, um sich selbst wieder zu verheiraten, und hat sich darum vorgenommen, unter allen Umständen und um jeden Preis unsere Verbindung zu zerreißen. Er fürchtet mich und meinen Einfluß auf Aljoscha...«

»Aber weiß denn der Fürst von eurer Liebe?« unterbrach ich sie erstaunt. »Er hatte ja doch nur einen Verdacht, der nicht einmal sicher war.«

»Er weiß es, er weiß alles.«

»Wer hat es ihm denn gesagt?«

»Aljoscha hat ihm vor kurzem alles erzählt. Er hat mir selbst gesagt, daß er seinem Vater alles erzählt habe.«

»Herrgott, was ist das für ein Verhalten! Er selbst hat alles erzählt und noch dazu unter solchen Verhältnissen?«

»Verurteile ihn nicht, Wanja«, unterbrach mich Natascha; »lache nicht über ihn! Man kann ihn nicht so richten wie alle anderen Menschen. Sei gerecht! Er ist eben ein andersgearteter Mensch als du und ich. Er ist ein Kind; und er ist anders erzogen als wir beide. Versteht er denn, was er tut? Der erste beste Eindruck, der erste beste fremde Einfluß ist imstande, ihn von jedem loszureißen, dem er einen Augenblick vorher Treue geschworen hat. Er hat keine Charakterfestigkeit. Er schwört einem Treue und gibt sich an demselben Tag ebenso wahr und aufrichtig einem andern hin; und dabei kommt er noch selbst aus freien Stücken, um es zu erzählen. Er wird vielleicht auch eine schlechte Handlung begehen; und doch wird man ihn wegen dieser schlechten Handlung vielleicht nicht verurteilen können, sondern ihn höchstens bedauern müssen. Auch zur Aufopferung ist er fähig; sogar zu weitgehendster, weißt du! Aber nur, bis ein neues Gefühl sich seiner bemächtigt; dann wird er wieder alles vergessen. So wird er auch mich vergessen, wenn ich nicht beständig um ihn bin. So ein Mensch ist er!« »Ach, Natascha, vielleicht ist das mit der zukünftigen Frau alles nicht wahr, sondern nur ein bloßes Gerücht. Wie kann er denn, wenn er noch ein solcher Knabe ist, überhaupt heiraten!«

»Der Vater hat seine besonderen Pläne, sage ich dir.« »Aber woher weißt du, daß sie ein so prächtiges Mädchen ist und daß er von ihr schon entzückt ist?« »Er hat es mir ja selbst gesagt.«

»Wie? Er hat dir selbst gesagt, daß er eine andere lieben könne, und hat trotzdem jetzt von dir ein solches Opfer verlangt?«