Neuntes Kapitel
Ich musterte ihn mit gespannter Aufmerksamkeit, obgleich ich ihn vorher schon oft gesehen hatte; ich schaute ihm in die Augen, als ob sein Blick alle meine Zweifel lösen und mir die Frage beantworten könnte, wodurch und auf welche Weise dieses Kind sie hatte bezaubern und in ihr eine so sinnlose Liebe hatte erwecken können, daß sie darüber ihre erste Pflicht vergaß und ohne Bedenken alles zum Opfer brachte, was ihr bisher das Heiligste gewesen war. Der Fürst ergriff meine beiden Hände und drückte sie kräftig; sein milder, klarer Blick drang mir tief ins Herz.
Ich fühlte, daß ich mich in meinem Urteil über ihn schon allein deswegen hatte irren können, weil er mein Feind war. Ja, ich liebte ihn nicht, und ich muß bekennen: ich habe ihn niemals liebgewinnen können, vielleicht als der einzige Mensch unter allen, die ihn kannten. Vieles an ihm mißfiel mir entschieden, sogar sein elegantes Äußeres, und vielleicht gerade deswegen, weil es gewissermaßen allzu elegant war. In der Folge habe ich eingesehen, daß ich in diesem Punkte parteiisch urteilte. Er war hochgewachsen, wohlgestaltet und schlank, hatte ein längliches, immer blasses Gesicht, blondes Haar und große, blaue, sanfte, nachdenkliche Augen, in denen manchmal plötzlich die gutherzigste, kindlichste Heiterkeit aufleuchtete. Seine vollen, kleinen, roten, sehr schön geschnittenen Lippen zeigten fast immer einen ernsten Zug; um so überraschender und bezaubernder wirkte ein plötzlich auf ihnen erscheinendes Lächeln, das so naiv und gutmütig war, daß der andere, in welcher Gemütsstimmung er sich auch befinden mochte, ein unmittelbares Bedürfnis empfand, zur Erwiderung ganz ebenso zu lächeln wie er. Er kleidete sich nicht auffallend, aber immer elegant; es war deutlich zu sehen, daß ihn diese Eleganz in allen Dingen nicht die geringste Mühe kostete, sondern ihm angeboren war.
Allerdings besaß er auch einige üble Eigenschaften, einige schlechte Gewohnheiten des guten Tons: Leichtsinn, Selbstgefälligkeit, höfliche Dreistigkeit. Aber er hatte ein klares, schlichtes Gemüt und war selbst der erste, diese Gewohnheiten an sich zu erkennen, sie zu bereuen und sich darüber lustig zu machen. Mir scheint, dieses Kind hätte niemals, nicht einmal im Scherze, lügen können, und selbst wenn er es getan hätte, so doch ohne zu ahnen, daß das etwas Schlechtes sei. Sogar sein Egoismus hatte etwas Reizvolles, vielleicht besonders deswegen, weil er ganz offen und nicht versteckt war. Verstecktes war überhaupt nicht an ihm. Er war schwach, zutraulich und schüchtern; an Willenskraft mangelte es ihm durchaus. Ihn zu kränken, zu betrügen wäre sündhaft und unwürdig gewesen, geradeso wie es sündhaft ist, ein Kind zu betrügen und zu kränken. Er war von einer Naivität, die zu seinem Lebensalter wenig stimmte, und verstand fast nichts vom wirklichen Leben; übrigens meine ich, daß er auch im Alter von vierzig Jahren noch nichts davon verstanden hätte. Solche Menschen sind sozusagen zu lebenslänglicher Unmündigkeit verurteilt. Ich glaube, es mußte ihn jeder Mensch liebgewinnen; er schmeichelte sich bei einem ein wie ein Kind. Natascha hatte die Wahrheit gesagt: er wäre imstande gewesen, auch eine schlechte Handlung zu begehen, wenn der starke Einfluß eines andern ihn dazu veranlaßt hätte; aber sobald er die Folgen einer solchen Handlung erkannt hätte, wäre er, meine ich, vor Reue gestorben. Natascha fühlte instinktiv, daß sie seine Herrin und Gebieterin sein werde, ja sogar er ihr Opfer. Sie kostete im voraus die Wonne, sinnlos zu lieben und den Geliebten gerade zur Strafe dafür, daß man ihn liebt, grausam zu quälen, und eilte vielleicht eben deswegen, sich ihm zuerst zum Opfer zu bringen. Aber auch in seinen Augen glänzte Liebe, und er schaute sie voll Entzücken an. Sie warf mir einen triumphierenden Blick zu. Sie hatte in diesem Augenblick alles vergessen: die Eltern und den Abschied und die Verdächtigungen... Sie war glücklich.
»Wanja«, rief sie, »ich habe ihm unrecht getan und bin seiner nicht wert! Ich dachte, du würdest nicht mehr kommen, Aljoscha. Vergiß meine schlechten Gedanken, Wanja! Ich werde es wiedergutmachen!« fügte sie, ihn mit grenzenloser Liebe anblickend, hinzu.
Er lächelte, küßte ihr die Hand und sagte, ohne ihre Hand loszulassen, zu mir gewendet:
»Denken Sie auch von mir nicht schlecht! Schon längst hatte ich gewünscht, Sie wie einen Bruder zu umarmen; sie hat mir soviel von Ihnen erzählt! Wir sind ja bisher kaum miteinander bekannt geworden und einander noch nicht nähergetreten. Wir werden Freunde sein, und... verzeihen Sie uns!« fügte er halblaut, ein wenig errötend, hinzu, aber mit einem so prächtigen Lächeln, daß ich nicht anders konnte, als seine Begrüßung von ganzem Herzen zu erwidern.
»Ja, ja, Aljoscha«, sagte Natascha, »er ist der Unsrige; er ist unser Bruder; er hat uns schon verziehen, und ohne ihn können wir nicht glücklich sein. Das habe ich dir schon gesagt... Ach, wir sind schlimme Kinder, Aljoscha! Aber wir werden zu dreien leben... Wanja«, fuhr sie fort, und ihre Lippen bebten, »kehre du jetzt gleich zu ihnen nach Hause zurück; du hast ein so goldenes Herz: wenn sie sehen, daß du mir verziehen hast, werden auch sie vielleicht, wenn sie mir auch nicht verzeihen, doch wenigstens etwas milder gegen mich gestimmt werden. Erzähle ihnen alles, alles, in deiner eigenen, herzlichen Ausdrucksweise; du wirst schon die richtigen Worte finden... Verteidige mich, rette mich; teile ihnen alle Gründe mit; lege ihnen alles so dar, wie du es selbst verstanden hast. Weißt du, Wanja, ich hätte mich zu diesem Schritt vielleicht nicht entschlossen, wenn es sich nicht zufällig so getroffen hätte, daß du heute mit mir gingst! Du bist meine Rettung: ich habe gleich auf dich meine Hoffnung gesetzt, daß du verstehen würdest, ihnen die Sache so mitzuteilen, daß ihnen wenigstens der erste Schreck etwas gemildert wird. O mein Gott, mein Gott!... Bestelle ihnen von mir, ich wüßte, daß ich jetzt keine Verzeihung mehr finden kann und daß, wenn sie mir auch verziehen, Gott mir nicht verzeihen wird; aber wenn sie mich auch verfluchten, so würde ich sie doch mein Leben lang segnen und für sie beten. Mein ganzes Herz ist bei ihnen! Ach, warum können wir nicht alle glücklich sein! Warum nicht, warum nicht!... O Gott, was habe ich getan!« rief sie plötzlich, als ob sie zur Besinnung käme, und am ganzen Leib vor Angst zitternd, verbarg sie das Gesicht in den Händen.
Aljoscha umarmte sie und drückte sie, ohne zu reden, fest an seine Brust. Eine Weile schwiegen wir alle.
»Wie konnten Sie nur ein solches Opfer von ihr verlangen!« sagte ich, indem ich ihn vorwurfsvoll anblickte.
»Schelten Sie mich nicht!« versetzte er; »ich versichere Ihnen, daß alle diese Leiden, so drückend sie jetzt auch sind, doch nur einen Augenblick dauern werden. Ich bin davon fest überzeugt. Man muß nur die nötige Festigkeit besitzen, um diesen Augenblick zu ertragen; dasselbe hat auch sie mir gesagt. Sie wissen wohclass="underline" schuld an alledem ist dieser Familienstolz, dieser ganz unnötige Streit und dann noch dieser Prozeß!... Aber (ich habe lange darüber nachgedacht, versichere ich Sie)... all das wird in Bälde ein Ende finden. Wir alle werden wieder einig werden und dann völlig glücklich sein; sogar die Väter werden sich versöhnen, wenn sie uns junges Paar ansehen. Wer kann's wissen, vielleicht wird gerade unsere Verheiratung den Ausgangspunkt für ihre Versöhnung bilden. Ich glaube, es kann gar nicht anders sein. Was meinen Sie ?«
»Sie sagen Verheiratung. Wann werden Sie sich denn trauen lassen?« fragte ich und blickte dabei zu Natascha hin.
»Morgen oder übermorgen; spätestens übermorgen, bestimmt. Sehen Sie, ich weiß es selbst noch nicht genau und habe, die Wahrheit zu sagen, noch keine Veranstaltungen dazu getroffen. Ich dachte, Natascha würde heute vielleicht noch gar nicht kommen. Außerdem wollte mich mein Vater heute durchaus zu einer jungen Dame führen (er möchte, daß ich sie heirate; Natascha hat Ihnen wohl davon gesagt; aber ich will nicht). Na also, darum habe ich alles noch nicht bestimmt in Aussicht nehmen können. Aber dennoch werden wir uns bestimmt übermorgen trauen lassen. Wenigstens ist das meine Ansicht, weil es ja auch nicht anders sein kann. Gleich morgen wollen wir auf der Pskower Chaussee wegfahren. Da habe ich nicht weit von hier auf einem Gut einen Schulkameraden vom Lyzeum her, einen sehr guten Menschen; vielleicht kann ich Sie mit ihm bekannt machen. Dort in dem Dorf ist auch ein Geistlicher; übrigens weiß ich nicht genau, ob einer da ist. Ich hätte mich vorher erkundigen sollen, aber ich bin nicht dazu gekommen. Aber im Grunde sind das Kleinigkeiten. Man muß nur die Hauptsache im Auge behalten. Man kann ja auch aus irgendeinem benachbarten Kirchdorf einen Geistlichen holen lassen; was meinen Sie? Es wird ja doch da in der Nachbarschaft Kirchdörfer geben! Schade ist nur, daß ich bisher nicht dazu gekommen bin, ein paar Zeilen dorthin zu schreiben; ich hätte meinen Freund vorher benachrichtigen sollen. Vielleicht ist er jetzt gar nicht zu Hause... Aber das ist alles nicht von Wichtigkeit! Wenn man nur Entschlossenheit besitzt, dann macht sich das alles ganz von selbst, nicht wahr? Inzwischen aber, bis morgen oder höchstens bis übermorgen, wird sie hier bei mir bleiben. Ich habe eine eigene Wohnung gemietet, in der wir nach unserer Rückkehr wohnen wollen. Bei meinem Vater möchte ich nicht mehr wohnen; habe ich nicht recht? Ich hoffe, Sie werden uns da besuchen. Ich habe die Wohnung allerliebst eingerichtet. Meine früheren Schulkameraden werden auch hinkommen; ich werde Abendgesellschaften geben...« Ich blickte ihn erstaunt und kummervoll an. Natascha flehte mich mit einem Blick an, ihn nicht zu streng zu richten und mit ihm Nachsicht zu haben. Sie hörte sein Gerede mit einem traurigen Lächeln an und betrachtete ihn gleichzeitig mit einer Art von liebevollem Wohlgefallen, wie man ein liebenswürdiges, heiteres Kind ansieht und sein unverständiges, aber nettes Geplauder anhört. Ich warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Das Herz wurde mir unerträglich schwer.