Anna Andrejewnas Erzählung machte auf mich einen starken Eindruck. Sie stimmte vollständig zu alledem, was ich unlängst von Aljoscha selbst gehört hatte. Bei seinen Mitteilungen hatte er sich gerühmt, er werde unter keinen Umständen um des Geldes willen heiraten; er hatte aber gesagt, Katerina Fjodorowna habe ihm außerordentlich gut gefallen. Ich hatte von Aljoscha auch noch gehört, daß sein Vater sich vielleicht selbst wieder verheiraten werde, obgleich er diese Gerüchte als unwahr bezeichne, um die Gräfin nicht vor der Zeit zu reizen. Ich habe schon gesagt, daß Aljoscha seinen Vater sehr liebte, auf ihn stolz war und ihm in allen Stücken wie einem Orakel vertraute. »Sie ist ja doch auch nicht aus gräflichem Geschlecht, dein entzückendes Geschöpf!« fuhr Anna Andrejewna fort, die über mein Lob des dem jungen Fürsten zugedachten Mädchens höchst aufgebracht war. »Natascha wäre für ihn eine weit bessere Partie. Jene ist die Tochter eines Branntweinpächters, während Natascha aus einer altadligen Familie stammt und ein hochwohlgeborenes Fräulein ist. Mein Mann hat gestern (ich habe vergessen, dir das zu erzählen) seine eisenbeschlagene Truhe aufgemacht (du kennst sie wohl?) und den ganzen Abend mir gegenübergesessen und, unsere alten Papiere durchgesehen. So saß er in tiefem Ernst da. Ich strickte einen Strumpf und sah meinen Mann gar nicht an, vor Furcht. Als er merkte, daß ich nichts sagte, wurde er ärgerlich und redete mich selbst an und erklärte mir den ganzen Abend über unseren Stammbaum. Es ergab sich dabei, daß wir, die Ichmenews, schon unter der Regierung Iwan Wassiljewitschs des Schrecklichen Edelleute waren und daß meine Familie, die Schumilows, schon unter der Regierung Alexei Michailowitschs in Ansehen stand; wir haben Dokumente darüber, und es ist auch in Karamsins russischer Geschichte erwähnt. Also sind wir in dieser Hinsicht nicht schlechter als andere Leute, lieber Freund. Als mein Mann anfing, mir das auseinanderzusetzen, da begriff ich gleich, was ihm im Kopf steckte. Es war ihm nämlich kränkend, daß Natascha als minder vornehm angesehen wurde. Nur durch ihren Reichtum ist uns die andere über. Na, mag dieser schändliche Mensch, Fürst Pjotr Alexandrowitsch, nach Reichtum trachten; das ist ja allgemein bekannt, daß er ein hartes, habsüchtiges Herz hat. Es heißt, er sei in Warschau heimlich Jesuit geworden; ob das wohl wahr ist?«
»Ein törichtes Gerücht!« erwiderte ich; aber es interessierte mich unwillkürlich, daß sich dieses Gerücht so hartnäckig hielt.
Aber die Nachricht, daß Nikolai Sergejewitsch seine alten Papiere durchgesehen hatte, erregte meine Aufmerksamkeit. Früher hatte er sich niemals seines Stammbaumes gerühmt.
»Es sind alles hartherzige Bösewichter!« fuhr Anna Andrejewna fort. »Nun, was macht denn mein liebes Kind, grämt sie sich, weint sie? Ach, es wird Zeit, daß du zu ihr gehst! Matrjona, Matrjona! Bist du eine nachlässige Person! Haben sie sie auch nicht gekränkt? So sprich doch, Wanja!«
Was sollte ich ihr antworten? Die alte Frau fing an zu weinen. Ich fragte sie, was sie noch für ein Unglück gehabt habe, von dem sie mir vorhin habe Mitteilung machen wollen.
»Ach, lieber Freund, es ist an dem bisherigen Unglück noch nicht genug gewesen; wir haben offenbar den Becher noch nicht ganz geleert! Du erinnerst dich vielleicht, lieber Wanja, ich hatte ein goldenes Medaillon, ein Souvenir, und darin war ein Bild Nataschas aus ihrer Kinderzeit; acht Jahre war sie damals alt, mein Engelchen. Nikolai Sergejewitsch und ich hatten es von einem durchreisenden Maler machen lassen; du hast das gewiß vergessen, Wanjuscha. Es war ein tüchtiger Künstler; er hatte sie als Amor dargestellt: sie hatte damals so schönes, helles, lockiges Haar; in einem Musselinhemdchen hatte er sie gemalt, so daß das Körperchen durchschimmerte, und sie sah auf dem Bild so hübsch aus, daß ich ' mich gar nicht daran satt sehen konnte. Ich bat den Maler, ihr auch Flügelchen zu malen, aber das wollte er nicht. Also, lieber Freund, nach unseren damaligen schrecklichen Erlebnissen nahm ich das Medaillon aus der Schatulle heraus und hängte es mir an einem Schnürchen auf die Brust; so trug ich es neben meinem Taufkreuz und fürchtete immer, mein Mann könnte es einmal zu sehen bekommen. Er hatte ja gleich damals befohlen, wir sollten alle ihre Sachen aus dem Haus schaffen oder verbrennen, damit nichts dabliebe, was uns an sie erinnern könnte. Mir aber war es ein Trost, auch nur ihr Bild anzusehen; oft fing ich bei dem Anblick an zu weinen; aber es wurde mir doch leichter ums Herz; und manchmal, wenn ich allein war, konnte ich mich gar nicht satt daran küssen, als ob ich sie selbst küßte; ich gab ihr zärtliche Namen und bekreuzte sie auch jedesmal zur Nacht. Ich redete mit ihr laut, wenn ich allein war, und fragte sie allerlei und stellte mir vor, daß sie mir darauf antwortete, und fragte dann weiter. Ach, Wanjuschka, es macht einen traurig, auch nur davon zu erzählen! Na, ich war nur froh, daß er wenigstens von dem Medaillon nichts wußte und nichts gemerkt hatte; aber auf einmal, gestern früh, war das Medaillon weg, und es hing nur das Schnürchen da; dieses hatte sich jedenfalls durchgescheuert, und da hatte ich das Medaillon verloren. Ich wurde ganz starr vor Schreck. Nun hieß es suchen: ich suchte und suchte − nichts zu finden! Es war verloren und verschwunden! Aber wo konnte ich es verloren haben? »Wahrscheinlich«, dachte ich, »im Bett«; ich durchwühlte das ganze Bett − nichts da! Wenn es losgerissen und irgendwohin gefallen war, dann hatte es wohl jemand gefunden; aber wer konnte es gefunden haben außer meinem Mann und Matrjona? Na, an Matrjona war überhaupt nicht zu denken; die ist mir mit ganzer Seele ergeben... (Matrjona, bringst du nicht bald den Samowar?) »Na«, dachte ich, »wenn er es nun findet, was wird dann geschehen?« Ich saß still da und grämte mich und weinte; ich konnte die Tränen nicht zurückhalten. Aber Nikolai Sergejewitsch wurde immer freundlicher und freundlicher gegen mich; er sah mich betrübt an, als ob er wüßte, weshalb ich weinte, und mit mir Mitleid hätte. Da dachte ich bei mir: »Woher kann er es wissen? Hat er das Medaillon vielleicht wirklich gefunden und aus dem Fenster geworfen? Denn in seinem Zorn ist er dessen fähig; er hat es hinausgeworfen und grämt sich nun selbst; er bereut, daß er es getan hat.« Ich ging sogar mit Matrjona hinaus, und wir suchten unter dem Fenster; aber wir fanden nichts. Das Medaillon war wie von der Erde verschwunden. Ich habe die ganze Nacht hindurch geweint. Zum erstenmal konnte ich Natascha nicht zur Nacht bekreuzen. Ach, das bedeutet etwas Schlimmes, das bedeutet etwas Schlimmes, Iwan Petrowitsch, das ist keine gute Vorbedeutung; nun weine ich schon den zweiten Tag, ohne mir je die Augen zu trocknen. Ich habe auf dich gewartet, lieber Freund, wie auf einen Engel Gottes: ich kann mir wenigstens das Herz erleichtern...« Und die alte Frau brach in bittere Tränen aus. »Ach ja, das habe ich noch vergessen, dich zu fragen,« sagte sie auf einmal, erfreut, daß es ihr noch eingefallen war; »hat er dir etwas von einer Waise gesagt?« »Ja, Anna Andrejewna, er sagte zu mir, Sie beide wären nach längerem Überlegen übereingekommen, ein armes Waisenmädchen zur Erziehung anzunehmen. Ist das richtig?«