Sie tritt durch das Gartentor, das Fritz ihr aufhält. Ein betonierter Plattenweg, die Platten in Dreierreihen, Gras und Moos in den Fugen, weil das besser aussieht. Alma steuert auf den Quittenbaum zu. Fritz folgt ihr. Vom Übergewicht, dem Rauchen und Trinken ist er kurzatmig, er redet in ihrem Rücken, schnauft, abwechselnd, stoßweise:
— Es gefällt mir, daß du mit einer Königin zu tun hast, die ihren Hochzeitsflug absolviert.
Alma stellt die Schwarmkiste in den Rasen, ganz froh über die kleine Aufregung:
— Du verstehst nichts von Bienen.
— Da ist was dran, räumt er ein: Verzeihung.
— Das ist die alte Königin. Ihr Hochzeitsflug war im vergangenen Frühling. Die Vorräte in ihren Samenschläuchen reichen noch für mindestens drei Jahre.
— Welche Vorräte?
— Zum Eierlegen. Die Königin wird in ihrem Leben nur einmal begattet.
Fritz runzelt die Stirn:
— Warum züchtet man eine so freudlose Spezies? Das schlägt am Ende auf einen selbst.
Alma gibt ihm einen Klaps auf die Baskenmütze. Statt sich die Mütze zurück in die gewohnte Position zu korrigieren, mimt Fritz den Beleidigten und schiebt sich die Mütze tiefer in die Stirn.
Er ist der Sproß eines Nebenzweiges einer österreichischen Schauspielerfamilie und zur Einsicht in die Uneinheitlichkeit seines Charakters erzogen worden, in die Vielfalt von Wünschen, Antrieben und Inkonsequenzen. Alma mag ihn. Zwar hat er sich mit den Jahren ein bißchen zu sehr auf die Rolle des charmanten Schwerenöters abonniert, der weiß, daß seine Zeit abgelaufen ist. Dennoch ist er ein Mensch mit einem beträchtlichen Repertoire an Unbeständigkeit. Ganz im Gegensatz zu Richard. Bei dem muß immer alles stabil und berechenbar sein, und er hat ein Leben lang Form und Förmlichkeit verwechselt, wie es ihm daheim am Mittagstisch vorgelebt wurde: Die Ellbogen müssen an den Körper gedrückt und die Zeigefinger in Längsrichtung des Stiels an das Besteck angelegt sein, wobei die Spitzen des Bestecks nicht in die Höhe zeigen dürfen.
Fritz sagt:
— Als Entschädigung für die Tätlichkeit bekomme ich ein halbes Kilo Honig.
Alma, die ihrerseits etwas murmelt, schenkt ihm keine Beachtung mehr. Sie inspiziert die Traube, die sich in Kopfhöhe, leicht erreichbar, im Blattwerk der Quitte gebildet hat, eine ausgefranste, zähflüssige, laut summende Masse ohne scharf gezogene Grenzen, aber innerhalb bestimmter Radien, so daß dieses gespenstisch schwebende Wimmeln dem Stillstand trotzdem näher scheint als der Bewegung. Ein ungewöhnlich kräftiger Geruch strahlt von dem Schwarm ab, malzig, muffig, weil die Bienen reichlich Wasser abbekommen haben. Alma schöpft mit dem Löffel einen Teil der Masse ab, dort, wo sie am dichtesten ist. Das Gebilde dehnt sich, wie zur Illustrierung der japanischen Weisheit, daß man dem Feind, der als Berg angreift, als Meer begegnen soll. Breiig quellen Bienen über den Rand der Kelle, fliegen teilweise von selbst in die Schwarmkiste, was vermuten läßt, daß Alma die Königin auf Anhieb erwischt hat. Sie hat die Königin im vergangenen Jahr nicht finden können, als sie die anderen Königinnen markierte, sie heuer nur einmal gesehen, doch während sie den Pinsel holte, war ihr das Biest ausgekommen. Diesmal hat Alma mehr Glück. Vorsichtig, weil sie keine der anderen Bienen zerquetschen will, schließt sie den Deckel der Schwarmkiste. Der Rest der Traube fällt auseinander und beginnt mit dem Abzug, heimwärts über die Mauer. Alma bedankt sich bei Fritz, der als behaglicher Zuschauer Abstand gehalten hat, an die Mauer gelehnt. Ein Schwätzchen (in extenso) vertagen sie auf die nächste Woche.
— Dann bekommst du auch den Honig.
Er breitet die Arme aus und lacht:
— Was du verschenkst, ist dein, was du behältst, auf ewig verloren.
Als Alma in den Garten zurückkehrt, noch immer naß, zieht der Schwarm bereits wieder in den Stock ein. Richard bemerkt davon nichts, er befreit gerade den Gemüsegarten von Unkraut. Im sanften Nachmittagslicht pfeift er etwas aus der Fledermaus vor sich hin, als wäre nichts vorgefallen. Auch Vogelgezwitscher ist zu hören und gelegentlich, wenn Wind heranfährt, das Laub. Auf der Terrasse marschieren die Ameisen an den Fuchsien auf und ab und melken unbehelligt die von ihnen bewirtschafteten Lausherden. Eine Libelle umkreist die Schutzengelfigur, sie hinterläßt einen Ton, als lasse jemand die Seiten eines dürren Buches über den Daumen laufen. Das Dreiervolk schafft seine Toten vom Flugbrett weg, gleich haben die Lebenden das Leben wieder für sich. Ruhe. Sieht ganz wie ein kleines Idyll in der Vorstadt aus.
Alma durchquert den Garten zur Werkstatt. Sie stellt die Schwarmkiste, in der es die Königin und ihre Vasallen noch eine Weile aushalten müssen, auf eine der alten Beuten hinter der Tür. Als nächstes wird sie duschen. Und der Rest des Nachmittags wird damit draufgehen, daß sie Mittelwände einlötet und dann die anderen Stöcke ansieht, damit die Schwärmerei nicht woanders weitergeht. Dieser Flohzirkus, denkt sie.
Mittwoch, 18. April 2001
Den ganzen Vormittag bringt Philipp nichts zustande. Mit den Ellbogen auf den Knien sitzt er auf der Vortreppe, von wo aus er die Auffahrt und die stadtseitige Anflugschneise der Tauben überblicken kann. Er ißt Champagnerpralinen, die seine Großmutter zu ihrem letzten, dem dreiundneunzigsten Geburtstag geschenkt bekommen hat. Zwischendurch liest er, versuchsweise, unkonzentriert, zunächst in Zoo oder Briefe nicht über die Liebe, später in den Stanisläusen. Korrekt: Der alte und der junge und der kleine Stanislaus, ein Buch, das Philipp in seiner Kindheit sehr gemocht hat und von dem er nicht weiß, wie es in den Fundus seiner Großeltern geraten ist. Lese ich eben die Stanisläuse, sagt er zu sich. Oder ich schreibe ein Buch: Glanz und Elend der Stanisläuse.
Nachmittags lungert er eine Weile mit einem belegten Brot in der Diele herum. Er kann sich aber nicht dazu durchringen, nochmals in den Dachboden hinaufzusteigen, um dort die Tauben zu vertreiben. Die Tauben: die ihn demoralisieren und ihm jede Lust an der Arbeit nehmen. Nicht daß seine Moral sonderlich gut oder seine Lust sonderlich groß wäre. Doch es würde Hoffnung bestehen. Er kommt über die erste Stufe nicht hinaus. Lange steht er am unteren Treppenabsatz und versucht, sich weniger miserabel zu fühlen. Er streicht mechanisch über die von vielen Händen polierte Kanonenkugel. Er fragt sich, ob je ein Familienmitglied über die Herkunft der Kanonenkugel Bescheid wußte. Kann doch sein, daß das Haus fertig gekauft wurde oder die Kugel erst beim Aushub für den Keller zum Vorschein kam, wie es auch sein kann, daß die Kugel aus einem Theaterdepot stammt. Auch eine Kanonenkugel hat das Anrecht auf ein Schicksal, das nicht zwangsläufig ereignisreich ist, zum Beispiel, daß sie nie zum Einsatz kam, nie etwas anderes als getragen oder gerollt wurde und schließlich als Zierstück in einem großbürgerlichen Stiegenhaus endete. Ein völlig ruhmloser Lebenslauf. Es gäbe auch andere Varianten. Man denke an diesen Grafen, der über viele Jahre in monotoner Arbeit an einer Kanonenkugel feilte, Woche für Woche, Jahr für Jahr, bis die Kanonenkugel so klein war, daß sie in die Pistole des Mannes paßte. Daraufhin, als wäre die Konzentrierung des Kalibers der einzige Grund und das Ziel der langwierigen Feilerei gewesen, schoß sich der Graf die ehemalige Kanonenkugel mit der Pistole in den Kopf. Gut Ding braucht Weile. Ja, ja. Braucht es das? Lohnt sich der ganze Aufwand? Die endlose Feilerei?