Auch in den Dachboden hochzusteigen und bestätigt zu finden, was er bereits weiß, käme Philipp hochgradig sinnlos vor. Das bringt nichts, sagt er sich. Gleichzeitig wendet er sich dem Telefon zu und ruft die Firma an, bei der er den Abfallcontainer bestellt hat. Im anfänglichen Überschwang hat er vereinbart, daß der Container alle drei Tage geleert werden soll. Doch die riesige Mulde steht nach wie vor ungenutzt da.
Philipp kreist in der Warteschleife, und während dort eine instrumentale Version von Mais Que Nada ertönt, füllt sich sein Kopf mit einem Wirbel aus Schwierigkeiten, auf die er in den letzten Tagen gestoßen ist. Neben dem Dachboden machen ihm die alten Möbel zu schaffen, sie sind verleimt oder mit Krampen versehen, und die Schrauben stecken entweder nur zur Zierde in ihren ausgenudelten Löchern, oder sie sind so vermurkst, daß kein Schraubendreher mehr greift. Philipp hat am Vortag stundenlang daran herumgebastelt auf der Suche nach einem Weg, wie er es fertigbringen könnte, die Möbel aus dem Haus zu schaffen. Bei manchen Möbeln gelang es ihm nicht einmal, sie von der Stelle zu rücken.
— Was kann ich für Sie tun? fragt die Stimme einer jungen Frau am anderen Ende der Leitung.
Philipp ermahnt sich, daß es allgemein für richtig angesehen wird, daß in jedem Augenblick nur die Tatsachen zählen und selbst die nicht für lange. Also beantwortet er die Frage nüchtern und zielstrebig: Der Abfallcontainer, den man ihm geliefert habe, müsse aufgrund von Umständen, die nicht vorhersehbar gewesen seien, bis auf weiteres nicht geleert werden. Er (Philipp Erlach) werde sich in einigen Tagen wieder melden.
— Ich habe es eingegeben, sagt die Frau.
— Vielen Dank. Auf Wiedersehen.
— Auf Wiederhören, sagt die Frau.
Erleichtert plumpst Philipp auf die Vortreppe. Dort nutzt er den durch das Telefonat gewonnenen Freiraum zum gründlichen Nachdenken. Eigentlich will er sich die weitere Vorgehensweise beim Ausräumen des Hauses zurechtlegen. Doch seine Gedanken gleiten rigoros ab, und er malt sich aus, was er anfangen wird, wenn er mit dem Ausräumen und Wegwerfen fertig ist.
Es müßte schön sein, wenn das Haus leer wäre und nicht nur leer, sondern ausgeputzt, ausgewaschen, ausgekratzt, alle Fenster offen. Durchzug würde herrschen. Und in alle Zimmer würde er Schreibtische stellen, in jedes Zimmer einen Schreibtisch, für jede Person auf dem Klassenfoto einen Schreibtisch. Er würde die Lebensläufe der Kinder synchron entwerfen wie Anatoli Karpow im Schach gleichzeitig gegen sieben oder zehn Großmeister antritt: einen Rumänen, zwei Ukrainer, einen Franzosen, einen Amerikaner, eine Ungarin, eine Chinesin, einen Aserbaidschaner.
Im ersten Raum des Kellers würde der mächtigste Schreibtisch aufgebaut, für die Lebensgeschichte eines Großvaters mit nur schwer bestimmbarer Anzahl an Ur-Präfixen. Eine große Tischlampe wäre erforderlich, damit Philipp die halb zerfallenen Papiere, die auf dem Schreibtisch ausgebreitet lägen, sichten und auswerten könnte. Besagter Vorfahre wäre zu Zeiten der zweiten Türkenbelagerung als Kundschafter in Diensten der kaiserlichen Armee gestanden und während eines Ausritts in die Hände der muselmanischen Belagerer gefallen. Die Türken würden ihm eine Kanonenkugel, die am Vortag einen Neffen des Heerführers erschlagen hätte, in den Bauch eingenäht und ihn dergestalt zu seinem Kaiser zurückgeschickt haben. Der Kundschafter, der zuvor nur seiner Karriere gedient hätte, würde sich nun einen beachtlichen Ruf als Frauenheld erwerben, um mit Hilfe der stets jungen Mädchen wenigstens in den Nächten das latente Gefühl von Kälte im Unterleib zu lindern. Der Mann wäre wegen seiner besonderen Wetterfühligkeit geachtet gewesen und gälte heute als Begründer der systematischen Temperaturaufzeichnungen für die Hauptstadt des Kaiserreichs, Wien: Stanislaus Xaver Sterk. Er ist einer der Männer, die auf dem Klassenfoto im Hintergrund stehen, links neben der Glasvitrine mit den ausgestopften Tieren, der ältere der beiden: der Herr Klassenlehrer.
Rechts neben der Vitrine steht der Vikar. Es sieht aus, als würde die Wildkatze mit ihren das Blitzlicht reflektierenden Glasaugen einen Überraschungsangriff auf ihn planen: Stanislaus Baptist Sterk. Er wäre der Ururgroßvater des Autors, Bediensteter der Kaiser-Ferdinand-Nordbahn zu Wien und gleichfalls ein Weiberheld, weil in Familienromanen von fernen Vorfahren nie viel anderes bekannt wird, als daß sie große Weiberhelden waren. Für Stanislaus Baptist wäre der Schreibtisch im Kellerraum neben dem Raum mit dem Schreibtisch für Stanislaus Xaver vorgesehen. Eine grüne Schreibunterlage trüge viel schlecht geordnetes, cremefarbenes Papier, auf dessen Grundlage sich bis in den Wortlaut hinein die Audienz beim Kaiser rekonstruieren ließe, zu der Stanislaus Baptist wegen einer nützlichen Erfindung 1847 geladen worden wäre.
Kaiser:
So hat man sich ein Gewitter über einem meiner Kronländer vorzustellen?
Stanislaus Baptist:
Über Austerlitz, wo kaiserliche Hoheit von Gottes Gnaden König von Böhmen sind.
Kaiser:
Was allseits bekannt ist.
Stanislaus Baptist:
Verzeihung, Majestät. Dort beliebte am 22. Juli dieses Jahres ein heftiges Gewitter niederzugehen.
(Kaiser gibt mit der Hand Zeichen zum raschen Weiterreden.)
Stanislaus Baptist:
Ein Blitz fuhr in die Telegraphenleitung Ihrer durchlauchtesten Majestät, und die so gefangene Elektricität pflanzte sich über viele Kilometer nach Wien fort, wo dies- und jenseits der Donau Kaiserwetter herrschte.
Kaiser:
Kurios, woher der liebe Herrgott das viele Wetter nimmt.
Stanislaus Baptist:
Die Leitungsdrähte sangen und knisterten wie sonst nie. Plötzlich wurden alle unbenutzten Apparate der Kaiser-Ferdinand-Nordbahn zu Wien, hierselbst, in Bewegung gesetzt, mit lautem Knallen sprangen kräftige Funken zwischen den Metallteilen der Bedienungstastaturen über, Drähte wurden zum Schmelzen gebracht, so daß der Gesang darin erstarb. Dem justament in Floridsdorf mit Telegraphieren beschäftigten Stanislaus Baptist Sterk, mir selbst, wurde ein so heftiger Schlag versetzt, daß er mit berganstehendem Haar vom Stuhl rücklings in einen offenen Schrank mit Akten flog.
Kaiser:
Oha! Oha! Er ist ein kräftiger Kerl, der Sterk. Man möchte nicht hinter ihm gestanden haben.
(Kaiser lacht auf eine gönnerisch langsame Art, Stanislaus Baptist lacht mit seinem Kaiser, ebenfalls verhalten, als wolle er seinen Kaiser imitieren. Der Kaiser gibt mit Handgeste Zeichen zum Fortfahren. Stanislaus Baptist orientiert sich anhand eines mitgebrachten Merkblattes, das er aus seiner Weste zieht, über das weiter zu Sagende.)
Stanislaus Baptist:
Um solcherlei Gefahren von den Telegraphendiensten Ihrer Majestät in Hinkunft abzuwenden, hat besagter Stanislaus Baptist Sterk, ich selbst, eine Vorrichtung konstruiert, die imstande ist, die galvanische Elektricität, welche zum Telegraphieren sich herbeiläßt, den Apparaten zuzuführen, die störende Gewitterelektricität aber unschädlich in die Erde zu leiten.
Kaiser:
So hat sich der Stanislaus Sterk selbst zu einem Erfinder eines Telegraphen-Blitzableiters hochgeschwungen.
Stanislaus Baptist:
Auf der Basis, daß Gewitterelektricität lieber Unterbrechungen in der Leitung überspringt, als etwa durch sehr geringfügige Drähte sich fortpflanzt, während galvanische Elektricität auch der geringfügigsten metallischen Leitung folgt, so diese nur ununterbrochen ist.
Kaiser:
Bravo, bravo, lieber Sterk! Er ist ein tüchtiger Untertan, eine Zierde für das Vaterland!
(Der Kaiser gibt seinem Sekretär Anweisung über drei Golddukaten zur Auszahlung an Stanislaus Baptist Sterk. Stanislaus Baptist Sterk empfängt die Dukaten mit untertänigstem Dank. Dann schiebt er sich rückwärts zur Tür, sich auf dem Weg dorthin vielfach in Richtung seines Kaisers verbeugend.)