Müßte, sollte, könnte.
Er horcht über seine Gartenmauer hinaus. Von fern sind die Klänge einer abendlichen Blasmusik zu hören, wie beinah jeden Tag, Hörner, Posaunen und Kontrabässe. Dazu in den Pausen vom Schießplatz die dumpf verhallenden Schläge. Einen Augenblick lang denkt Richard an Frieda und daß das Mädchen in nächster Zeit wieder häufiger allein in ihrem dunklen Zimmer liegen wird, wo sie die Ententeiche ihres Heimatdorfes aus den alten Tapeten riecht. Ein wenig vermißt Richard schon jetzt die nicht mehr ganz weißen, etwas rauhen Bettücher in Friedas Zimmer, in denen er bereits als Kind geschlafen hat. Doch einen Augenblick später sind auch diese Dinge neu eingeordnet: Erinnerungen für spätere Tage, Lebensabschnitte, die von erstaunlicher Unfähigkeit geprägt waren und glücklicherweise schon morgen nicht mehr zu ihm gehören werden.
Mit Indianergeheul kommt Otto um die Ecke gebogen, er strebt auf Ingrid und die Katze zu, tanzt bedrohlich um die beiden herum. Die Katze befreit sich aus Ingrids Händen und springt mit großen Sätzen davon. Ingrid schiebt drohend die Lippen nach vorn und zieht die Augenbrauen zusammen, wie Alma es oft macht. Otto setzt das Heulen und Tanzen fort.
— Otto, hör auf, es reicht, schnauzt Richard.
Er winkt den Buben zu sich her und gibt ihm eine Ohrfeige. Er ist überzeugt, daß es nicht schaden kann, wenn auch Otto sich ein wenig diszipliniert.
— Auf der Mauer hast du nichts verloren, und verräum dein Tretauto dort, wo es hingehört.
Ein paar Bienen fliegen saumselig.
Sonnentupfen wandern.
Schwere Blumen schaukeln.
Der Geruch von Teppichreinigungsmittel erfüllt die Luft.
Der Schutzengel verharrt ohne die geringste Bewegung.
Der Wind bläst langsam die Farbe aus den Dingen heraus.
Auf der Mauer, auf der Mauer sitzt a dicke.
Wie lange wird das irgendwann her sein?
Richard geht davon aus, daß er sich erinnern wird.
Sonntag, 29. April 2001
Bei Johannas nächstem Besuch ist immerhin das Badezimmer so weit entrümpelt, daß sie trotz der zahlreichen gebrochenen Fliesen und der darauf niederregnenden Dispersionsflocken zu Philipp in die Wanne steigt. Sie sagt, vom ständigen Sitzen auf der Vortreppe habe er schon Sommersprossen wie normalerweise erst im Hochsommer. Sie schaut ihn an, er mag es, wenn sie ihn so anschaut, und das, obwohl ihm nicht recht aufgeht, ob hinter ihrer Feststellung eine leise Kritik verborgen ist. Oder will Johanna das Gespräch vom letzten Mal wiederaufnehmen? In puncto familiärer Unambitioniertheit? Nein. Bestimmt nicht? Um so besser. Nichts Neues an der Familienfront. Johanna läßt heißes Wasser nachrinnen. Es fließt über die gelblichen Kalkschlieren unterhalb des Hahns, bis Philipp die Röte ins Gesicht steigt. Nach der Fensterscheibe beschlagen jetzt auch die hellblauen Fliesen an der Wand. Johanna streckt sich aus, so gut es geht. Dann fragt sie:
— Du, Philipp, kann ich für ein paar Tage bleiben?
Eingedenk des vortägigen Telefonats (und so vieler Telefonate) ist Philipp nicht sonderlich erstaunt. Johannas Ruf: Ich will dich nicht verlieren, ich trenne mich von meinem Mann! Darauf die kurze Hoffnung, daß sie es wirklich und wahrhaftig tun wird, und unmittelbar danach das Gelächter der Wiederholung (als trete der Narr im Reigen der Turmuhr in die offene Luke), weil der Vorsatz auch diesmal vorübergehen wird wie eine Grippe, wie eine Halluzination.
— Was verschafft mir diesmal die Ehre? fragt er.
Das Übliche halt.
Daß Johanna sich mit Franz gestritten hat und daß Julia (das Kind, mit dem Franz und Johanna ihre Beziehung verewigt haben) das verlängerte Wochenende bei den Eltern von Franz in Neckenmarkt verbringt. Da fühlt sich Johanna zu Hause entbehrlich.
Während sie beide im Wasser herumrutschen, halb liegend, halb sitzend, reden sie über das, was sich in letzter Zeit bei Johanna angehäuft hat, über Franz, der in einer künstlerischen Krise stecke, so Johanna. Sie führt Einzelheiten an: Daß Franz den ganzen Tag über nichts anderes als über sein Ringen mit Ideen rede, ohne je zu arbeiten. Er lasse sich stundenlang über das Körperliche und das Intuitive aus und darüber, daß er seinen absoluten Anspruch in die Welt hineinzwingen wolle. Er wisse, daß er mit diesem Anliegen scheitern werde, aber nur, weil er längst von Menschen ohne Format und Sinn heruntergewirtschaftet sei. Damit meine er selbstverständlich sie, Johanna, sagt Johanna. Sie lacht. Gestern abend sei Franz in der Wohnung auf- und abgelaufen und habe andauernd gerufen, die Welt ist voller Beep! Beep! Beep! Er habe an seinen Skulpturen gerüttelt, sich hinter ihnen versteckt und wieder gerufen: Beep! Beep! Beeper! In seiner brüsken Art. Nach etlichen weiteren Beep! Beep! Beep! habe er die Wohnung ohne Erklärung in Richtung des neuen Ateliers verlassen. Das neue Atelier, mit dem die Probleme gleich weitergehen. Franz will partout keinen Schlüssel für das Atelier hergeben, nicht einmal für Johanna, seine ihm amtlich angetraute Frau.
— Er argumentiert, sagt Johanna, meine Forderung sei ein Versuch, Macht über ihn zu erlangen, weil ich mir die Möglichkeit schaffen will, ihn kontrollieren zu können. Und falls ich behaupten wolle, daß ich den Schlüssel nicht fürs eigene Ego oder zur Besitznahme brauche, dann frage er sich, wofür ich den Schlüssel überhaupt benötige. Wenn ich ohnehin jedem Kommen eine Warnung voranschicken wolle, sei das alles nur ein bürgerlicher Popanz, den er nicht einsehe.
Philipp meint:
— Eine gute Argumentation, auf die sich nicht viel sagen läßt.
— Mag sein. Trotzdem ist es eine Frechheit. Immerhin bin ich mit ihm verheiratet.
— Wem sagst du das.
Obwohl Philipp das Gedankenspiel rund um Johannas Ehe zunehmend als unnötige Strapaze empfindet und als Falle, in die er irgendwann einmal getappt ist, denkt er, daß es vielleicht ganz normal ist: Wenn man ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau und Mutter hat, muß man sich auch regelmäßig mit den psychologischen Hintergründen des Verhältnisses dieser Frau zu ihrem Mann und umgekehrt beschäftigen. Bei der Gelegenheit fällt ihm auch wieder ein, daß er sich schon seit längerem wundert, wie selbstverständlich er sich vor einigen Jahren damit abgefunden hat, Nummer zwei zu sein, wie anstandslos er sich seit Johannas Heirat mit der stundenweisen Liebe begnügt und wie restlos er es für erwiesen hält, daß Johanna ihn mehr liebt als Franz, solange sie mit Franz nicht fünfzehn Kinder in die Welt setzt, sondern es bei dem einen Ungewollten beläßt.
Johanna weiter:
— Der Atelierschlüssel ist zu einem Statussymbol geworden. Aber ich habe gestern zu Franz gesagt, daß ich auf die Aushändigung um des lieben Friedens willen scheiße. Jetzt kann er sich was drauf einbilden, daß er seine künstlerische Intimsphäre samt Schaffenskrise erfolgreich verteidigt hat.
Und nach einer Pause:
— Von mir aus kann er zum Teufel gehen, so schnell wie möglich und je eher, desto besser.
Aber diese Ankündigungen und Glücklichmacher haben für Philipp nach der langen Behandlungszeit keine nennenswerte Wirkung mehr.
— Ich bin gespannt, sagt er.
— Du wirst schon sehen, beteuert Johanna: Bei Franz und mir läßt sich nichts mehr beschönigen.
— Wie gesagt, ich bin gespannt.
— Wart’s nur ab.
— Ich warte es ab, ganz bestimmt. Wer lange genug wartet, kann König werden.