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Peter drückt sich an das nach innen geklappte Haustor, äugt um die Ecke und sieht, wie der sowjetische Offizier rückwärts gehend seinen Infanteristen Deckung gibt. Die Soldaten manövrieren den Kinderwagen mit dem quer darüberliegenden Körper des Getroffenen in eine Seitengasse, dort verschwindet wenig später auch der Offizier. Von der Ruine aus wird dem Offizier, als er schon nicht mehr zu sehen ist, hinterhergeschossen. Der Nachhall des Schusses läßt die Straße noch leerer wirken.

Die Buben richten den Hausgang als zweite Beobachtungsstelle ein. Unablässig die Umgebung sondierend, auf Geräusche lauschend, die zu ihnen dringen, warten sie zehn Minuten, ohne daß etwas Nennenswertes vorfällt. Sie haben Angst, aber gleichzeitig sind sie in angeregter Stimmung, die teils mit dem Bewußtsein der Lebensgefahr zu tun hat, teils mit der Überzeugung, daß ihnen ihre Angst nicht anzumerken ist oder, wenn doch, sie wenigstens nicht feige sein werden. Wenn die Buben schon über manches streiten gehört haben, dann bestimmt nicht über Feigheit, die das allerversöhnlichste Thema ist, das sie nennen können, Einigkeit in allen Lagern, das Letzte vom Letzten. Trotzig, mit einem großmäuligen Gestus der Überheblichkeit, unterhalten sie sich darüber, was an ihren Uniformen noch zu verbessern wäre, wo der Schnitt nicht ganz paßt und mit welchen Tricks man die blauen Hosenbeine aufbügeln kann, daß sie einen Schlag bekommen wie die Beinkleider der Matrosen. Sie reden über den Buben, der geschossen hat und der am Vortag in so makellos adjustierter Kleidung auftauchte, als wäre er abkommandiert, dem Führer zum Geburtstag zu gratulieren. Sie beneiden ihn um seine Koppel, die aus frisch gefettetem Leder und nicht, wie ihre, aus Pappmaché gefertigt ist. Und wie schon am Vortag, als sie im Bellaria-Kino übernachteten, kommt die Sprache auf das unklare Alter des Kleinen. Der Fähnleinführer lobt sich den Opfermut und Siegeswillen, er nennt den Buben ein Vorbild, dulce et decorum est pro patria mori. Er muß seinen kleinen Vortrag aber abbrechen, kaum daß dieser begonnen hat, denn stadtseitig, die Ruine passierend, kommt ein Zivilist die Straße herunter.

Der Mann, ein älterer Herr, ist in Unterhosen, seine schwarzen, verwaschenen Drillichhosen hat er dabei, nur sind sie unten verknotet und offenbar mit Mehl gefüllt. Diesen aufgeblasenen, aufgeblähten, wasserleichenähnlichen Torso zerrt der Mann schnaufend und fluchend, aber mit dem Eifer des Glücklichen über den Gehsteig in Richtung der Buben.

— Geht bloß nach Hause, knurrt der Mann kopfschüttelnd, als er die bewaffneten Hitlerjungen in dem offenen Haustor stehen sieht. In gebeugter Haltung verharrt er einen Moment, als bemühe er sich zu begreifen, was das alles zu bedeuten hat und wie es kommen konnte, daß er in löchrigen Unterhosen und mit verrutschten Kniestrümpfen auf der Straße steht.

— Ein Wahnsinn, sagt er.

Er reckt in Gewichthebermanier seine weiß bestäubten Hände aus den Ärmeln der Jacke, um die verbeulte Karikatur seiner selbst besser fassen zu können. Mit einem weiteren leisen Fluch schleppt er die Last davon.

— Da unten sind Russen, ruft Peter dem Mann hinterher.

— Die sollen ihn erschießen, schnauzt der Fähnleinführer: Du siehst doch, was das für einer ist.

Der Fähnleinführer spuckt hinaus auf die Straße, wo sich der Mann auf seinen käsigen, blaugeäderten Heuschreckenbeinen entfernt, kläglich neben der mehlgefüllten Hose, deren Umfang auf Früheres und Künftiges verweist, auf bessere Zeiten, die es gab und hoffentlich auch wieder geben wird.

— Man könnte ihm in die Hosen hineinschießen, schlägt Peter vor zur Wiedergutmachung dafür, daß er den Plünderer vor den Russen warnen wollte.

— Kommt, wir schießen ihm die Hosen entzwei, wiederholt er. Bei dem Gedanken, daß das Mehl dann ausrinnt wie das Korn in Max und Moritz, muß er lachen.

Der andere Bub gluckst mit ihm.

— Dieses Arschloch, sagt der andere Bub, doch ohne sich zu rühren.

Der Fähnleinführer indes findet Peters Vorschlag weniger witzig und haut Peter die Kappe vom Kopf.

— Spar deine Munition, du Pfeife, du wirst jeden Schuß brauchen.

Ohne sich beirren zu lassen (oder mit apathischer Fügsamkeit), klaubt Peter seine Kappe vom Boden auf. Er mag seinen Fähnleinführer nicht, der hat von Anfang an darauf verzichtet, es unter seinen Buben zu besonderer Beliebtheit zu bringen. Anfang Februar hat er auf dem Wehrertüchtigungslager in Judenburg Peters Degradierung durchgesetzt, nachdem Peter in der Nacht beim Pinkeln ins Waschbecken erwischt worden war. Die übliche Geschichte. Aber er: Degradiert. Im Hof vor versammelter Truppe zuerst zusammengestaucht, anschließend die Scharführer-Kordel heruntergerissen. Das war furchtbar. So eine Blamage.

Peter gähnt nervös. Sein Magen knurrt. Gleichzeitig memoriert er einen Essensspruch, den man ihnen auf einem Sommerlager beigebracht hat. Der ging so: Alle Leute sollen leben, die uns was zu essen geben. Alle Leute werden verhauen, die uns was vom Essen klauen. Alle Leute sollen sterben, die das Essen uns verderben.

Drei Wochen lang vor jedem Essen immer derselbe Spruch.

— Verhauen sollte man den Plünderer, sagt er.

Aber die anderen hören ihm bereits nicht mehr zu.

Von Südwesten trommelt der Feind schon den ganzen Tag mit allen Batterien über die Buben hinweg in die Radialstraßen zum ersten Bezirk hinein. Lage auf Lage in verblüffend rascher Folge. Nach der Richtung der Detonationen zu schließen, erhält den meisten Beschuß die Gegend um die Stiftgasse. Peter findet es erstaunlich, wie schnell diese Geräusche vertraut geworden sind; ganz ähnlich war es bei den Zügen, die daheim hinter dem Haus vorbeifuhren. Peter ruft sich ins Gedächtnis, daß seine Mutter die vorbeifahrenden Züge zu mögen anfing, je weiter ihre Krankheit fortschritt, und daß sie sagte, in der Nacht, wenn sie wach liege, denke sie beim Geräusch der Züge an Ausflüge und Besuche von früher. Später, wenn Peter Zeit dazu haben wird (sehr viel später), will er sich diese Dinge nochmals durch den Kopf gehen lassen. Aber im Moment ist für derlei Überlegungen kein Platz. Als ihm einfällt, wie erleichtert er war, dank der Einberufung von der Trübseligkeit daheim wegzudürfen, spürt er kurz ein schlechtes Gewissen. Doch auch diese Empfindung wird von den Anforderungen des Augenblicks fast unverzüglich überlagert. Das Rattern und Quietschen schlechtgeölter Panzerketten mischt sich unter den hartnäckigen Artillerielärm und schwillt rasch an. Ein T-34-Panzer mit vorne aufgemaltem rotem Stern biegt von unten in die Straße. Die Turmkanone schwenkt einige Grad nach rechts, senkt sich und feuert von der linken Straßenseite eine schrill zwitschernde Granate auf die Ruine am rechten Ende des Blocks. Das Geschoß detoniert mit hohlem Klang. Ein verdammter Krach. Eine Staubwolke schießt auf, es steindelt in den aufragenden Mauerresten, und an den umliegenden Häusern zittert, was an Fensterscheiben noch vorhanden ist. Unsichtbar, aber ganz in der Nähe, in einer der Seitengassen, fordert aus einem Lautsprecherwagen eine blecherne Stimme mit wienerischem Akzent zum Niederlegen der Waffen auf.

— Wir kommen als Befreier, ruft die Stimme.

Der Fähnleinführer bekommt einen dicken Hals und sagt:

— Da lachen die Hühner.

Während die Stimme aus dem Lautsprecherwagen der Behauptung mit Hinweis auf die Moskauer Deklaration Glaubwürdigkeit verleihen will, legt der Fähnleinführer eine Panzerfaust auf Peters Schulter, und indem er Peter näher zum Tor schiebt, fügt er den weiter aus der Seitengasse tönenden Parolen hinzu:

— Und dann werden alle deutschen Männer sterilisiert.

Diese Ansicht leuchtet Peter sogar bei oberflächlicher Betrachtung ein, immerhin sind umgekehrt die Russen in der neuen Weltordnung als Latrinenputzer vorgesehen. Da darf man kein Entgegenkommen erwarten.