Peter ist überrascht, wie der Bub dasteht: Das Bauchfell scheint aufgerissen, zwischen den Fetzen der blutigen Uniform kann man die ebenfalls blutigen Eingeweide sehen, die der Bub mit den Händen am weiteren Austreten hindert. Das rechte Auge, wenn von einem Auge noch die Rede sein kann, ist ohne Glanz, das untere Lid lappt weg, und der Knochen darunter liegt frei. Die rechte Gesichtshälfte ist blutüberströmt, vom Kinn tropfen große Batzen in schneller Folge auf den Ärmel des rechten Arms. Davon nimmt der Bub keine Notiz. Mit dem linken Auge blickt er Peter an, ein Ausdruck in dem weiterhin kindlichen Gesicht, der Peter von seiner Mutter vertraut ist. Nicht so sehr, als ob der Bub Schmerzen hätte, vielmehr in ungläubiger, schreckerfüllter Verstörung, weil er nicht weiß, ob jetzt das Ende kommt. Nach einiger Zeit unternimmt der Bub den Versuch, auf Peter zuzugehen. Er stößt sich mit den Schultern ab, aber der Oberkörper kann sich ohne die Mauer im Rücken nicht halten und schwankt in die vorherige Position zurück. Peter steht wie angewurzelt da. Aber beim Hinschauen berührt es ihn, wie konzentriert der Bub mit einem Mal zu sein scheint. Es erschreckt Peter nicht, es berührt ihn nur. Eigenartig. Schwach die Lippen bewegend, wie fluchend, macht der Bub einen weiteren Versuch zu gehen, als wolle er das bißchen Leben, das er noch vor sich hat, dafür verwenden, einen oder zwei Schritte zu machen. Aber die Kraft reicht nicht. Weiterhin das linke Auge auf Peter gerichtet, sinkt der Bub plötzlich weg in einer unglaublich weichen Bewegung, wie ein fallendes Stoffband. Die Knie berühren den Boden, rutschen nach hinten, das Gesicht schlägt widerstandslos auf das Straßenpflaster, die Schulterblätter brechen seltsam ein. Der Bub zuckt einmal, als wolle er sich, wie zum Salut, stocksteif machen, dann liegt er ganz ruhig, und es sieht so aus, als habe der Krieg für ihn aufgehört (aber der Frieden nicht unbedingt begonnen, gar nichts hat begonnen).
Krieg, ein paar Zahlen, Statistiken, Markennamen, Vorkommnisse (Effekte) und da und dort ein Ereignis, das nicht jeden betrifft.
Obwohl sein verletzter Arm in einer Schlinge liegt, stützt Peter ihn mit der rechten Hand. Seine gelegentlichen Blicke zurück auf die Stadt, von der man nicht viel wiederfinden wird, wenn der Krieg noch eine Weile mit der momentanen Wut voranschreitet, sind ebenso gehetzt wie die Blicke auf die nässende, im Licht schimmernde Stelle an seinem Verband, durch die das Blut sickert. Er fiebert ein wenig, entweder von der Verletzung oder von einer der Injektionen, die man ihm am Verbandsplatz in den gesunden Arm und in die Brust gesetzt hat. Das hat saumäßig weh getan. Aber Schmerzen interessieren niemanden, nicht jetzt. Solange er gehfähig sei, solle er gehen, hat der Sanitäter gesagt, und deshalb geht Peter, schweißgebadet, keuchend, mit schlurfenden, langgezogenen Schritten durch die Kahlenberger Weingärten, nachdem ein Laster der Feldsanitätsabteilung ihn und den Hitlerjungen, der im Keller der Ruine versteckt war, bis nach Nußdorf mitgenommen hat. Peters Beine fühlen sich schwer an. Im Vorwärtsstolpern ist ihm, als klebe der Kriegsdreck der halben Stadt an seinen Schuhen. Doch dem Bedürfnis, sich hinzusetzen und auszuruhen, gibt er nicht nach, angetrieben von dem, was der Sanitäter sonst noch gesagt hat: Daß jeder, der Anspruch auf ein Lazarettbett erhebe, sich genausogut freiwillig in die Gefangenschaft melden könne. Länger als zwei Tage würden die Verteidigungsstellungen dem Druck der Bolschewisten nicht standhalten. Dann sei Feierabend und gute Nacht (schöne Heimat). Mitunter, wenn er nicht mehr weiterwill, schließt Peter im Gehen die Augen, er konzentriert sich ausschließlich aufs Weiterkommen. Dann erscheinen ihm seine mechanischen Schritte wie Klammern, die seine Gedanken zusammenhalten: Daß man mit dem Krieg hätte aufhören sollen, als die Dinge noch besser standen. Daß die Stadt keineswegs deshalb rücksichtsvoll und gebäudeschonend erobert werde, weil Österreich das erste Opfer der Hitlerschen Aggression war, sondern damit man die Bevölkerung von Stalingrad in Wien ansiedeln kann (das hat er ebenfalls am Verbandsplatz aufgeschnappt). Und die Sterilisation aller Männer, von der der Fähnleinführer geredet hat, nachdem sie von der Lautsprecherstimme zum Niederlegen der Waffen aufgefordert worden waren. Und —. Und —. Etwas Unwirkliches hat das alles. Auch die Landschaft, durch die Peter stolpert, scheint einen Angsttraum abbilden zu wollen, die krüppeligen, wie in Agonie verkrampften Weinstöcke, der säuerlich brandige Rauch überall, der von der steten Brise über der Donau den Hügel heraufgedrückt wird. Selbst hier in den Weingärten, wo kaum Schäden zu beklagen sind, ist alles von einem grauen Firnis überzogen und voller Dreck und Material. Herumfliegendes Papier, zertrümmerte Materialkisten und weggeworfene Ausrüstungsteile. Eine Panzerabwehrkanone mit zerfetztem Lauf ist zwischen die Reben gefahren, unmittelbar davor liegen drei Hilfsfreiwillige mit asiatischem Aussehen, die sich bewußtlos getrunken haben. Peter und sein Begleiter, der die Ratsche bei sich trägt, gehen rasch vorbei. Eine Minute später sehen sie vor sich, oberhalb zur Linken, einen mit halboffenen Knospen vor dem Blühen stehenden Kirschbaum, dick und wuchtig, an dem ein Soldat hängt. Ein Schild vor der Brust des Soldaten weist ihn als Feigling und Deserteur aus, die Rebschnur hat sich bereits tief in den gedehnten Hals eingeschnitten. Sie erreichen den Baum überraschend schnell, Baum und Erhängter wachsen plötzlich heran. Wie aufgebläht. Obwohl der Anblick die Buben nicht so erschüttert, wie dies noch vor einigen Jahren der Fall gewesen wäre (als ihre größte Sorge war, wenn sie Mathe nicht verstanden), überfällt die beiden ein Grausen beim bloßen dran Vorbeischauen. So eine flaue Übelkeit. Oder sind es die Spritzen, die man ihm verabreicht hat? Au, hat das weh getan. Der Bub an Peters Seite beschleunigt nochmals den Schritt. Peter läßt es geschehen, obwohl er Mühe hat mitzuhalten. Ihm kommt vor, als würde der Baum mit dem Erhängten viel größer aussehen, als er normalerweise aussehen dürfte. Er wundert sich, daß man sich solche Gedanken machen kann.
Die Buben passieren die Stelle, die Blicke gezwungen geradeaus. Schon vorbei.
— Wär ich bloß nicht mitgegangen, sagt weinerlich der Bub: Wenn wir an einen Posten der Feldgendarmerie kommen, und sie fragen mich nach meinen Papieren, werde ich auch aufgehängt.
Peter hält mit gepreßter Stimme dagegen:
— Ich wüßte nicht warum.
— Als Deserteur. Ich habe keinen Marschbefehl.
— Du marschierst auch nicht.
— Aber ich habe die Fahnen Adolf Hitlers verlassen.
Bei der Vereidigung hat Peter keine Fahnen gesehen, der äußere Rahmen war mehr als nur dürftig, keine Triumphbögen, keine Böllerschüsse, ebenso fehlten tiefsinnige Ansprachen, die Musik und der anschließende Schweinsbraten, den der Nachbarssohn vor zwei Jahren noch bekommen hat. Dann, auf dem Weg zum Barrikadenbau, ist ihm vor vier Tagen wegen seiner HJ-Armbinde in der Straßenbahn ein Wehrmachtsfahrschein verweigert worden. Er kennt noch nicht einmal seine genaue Zugehörigkeit.