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Bei flüchtiger Betrachtung sehen die beiden sehr beherzt aus, aber auf den zweiten Blick erwecken sie nicht den Eindruck, als ob sie die Entschlossenheit von zehn Teufeln besäßen. Philipp bietet Zigaretten an. Doch ohne diesem Offert Beachtung zu schenken, oder vielmehr, ohne sich neuerlich anstiften zu lassen, den Gang in den Dachboden aufzuschieben, schultern die Arbeiter ihre Schaufeln und poltern die Treppe hinauf.

Philipp bleibt in der Diele. Er begutachtet die restlichen Einkäufe. Vor allem seine Gummistiefel gefallen ihm, mit einem roten oberen Rand, innen grün gefüttert, die Sohlen ebenfalls grün, passend zu seinem Lieblingshemd. Er zwängt seine Füße in die Stiefel, sie sitzen so lala. Eine Nummer größer hätte es auch getan. Gasmaske und Schutzbrille bringt er an den dafür vorgesehenen Stellen an, auch in die schweren Arbeitshandschuhe schlüpft er noch im Erdgeschoß. Derart ausstaffiert und La Paloma trällernd, nimmt er die Treppe in Angriff. Doch bereits im ersten Stock biegt er ab, weil sich der größte Spiegel des Hauses im früheren Schlafzimmer der Großmutter befindet. Um mehr Licht hereinzulassen, öffnet Philipp die Fensterläden. Er betrachtet sich eine Weile im Spiegel. Dann geht er dazu über, sich vor die Reihen der Fotos zu stellen, die in dem Zimmer an den Wänden hängen: teilweise über dem Bett, teilweise über dem Toilettentisch, alle vor demselben Hintergrund des grünen, auf die Wände gewalzten Kartoffeldruckmusters. In ovalen, runden, viereckigen und hufeisenförmigen Rahmen, von Porzellanefeu und Metallrosen umschlossen, all die vertrauten und weniger vertrauten Gesichter, die ganze zerstreute, versprengte und verstorbene Familie. Philipp erkennt sie alle, in allen Altern.

Er fragt sich, ob seine Angehörigen auch ihn erkennen würden, Philipp Erlach, sechsunddreißig Jahre alt, ledig.

Mit Maske und Schutzbrille sieht er nicht wie ein Enkel, Sohn oder Bruder aus. Eher wie eine Erscheinung, wie einer, der sich keimgeschützt und unbetroffen nach Jahrzehnten in eine längst verlassene Landschaft wagt und Materialproben nimmt. Zur Dokumentation einer untergegangenen Kultur.

Ist ja alles schon ewig her, redet er sich zu, und für einen Augenblick glaubt er, in seiner Verkleidung niemandem Rechenschaft schuldig zu sein. Er findet sogar den Mut, die Nachtkommode der Großmutter zu öffnen, die vollgestopft ist mit Papierkram. Er zieht die Schubfächer mit einer gewissen Gleichgültigkeit heraus, in einem fast neutralen Raum, eher flüchtig und doch im Bewußtsein, daß er hier einer Möglichkeit gegenübersteht, vom Fleck zu kommen (wie Johanna es ausdrücken würde). Er hingegen würde es nicht so ausdrücken. Aber den Weg in den Dachboden setzt er trotzdem mit einem Gefühl der Unruhe fort.

Sowie er die Tür des Dachbodens geöffnet hat, verdoppelt sich sein Puls. Steinwald schreit ihm durch das Knattern der Flügel und das akustisch zu einem einzigen, anhaltenden Ton verfestigte Fiepen entgegen, er solle verschwinden. In Steinwalds von der Maske verzerrter Stimme klingt das schiere Entsetzen. Philipp sieht, daß Atamanov beim Fenster steht, Steinwald in der Mitte des Raums, beide umflattert von Tauben, die weißen Staub aus ihren Flügeln schlagen. Beide in den spiralenen Strudeln dieses Staubs versinkend und wieder daraus hervortauchend. Dreckig, als ob sie sich beide schon mindestens einmal der Länge nach auf die frischen Kotschichten geworfen hätten. Der ganze Raum ist von einem kreidigen Weiß überzogen. Nicht vom Weiß verwunschener Schneelandschaften, sondern dem gruseligen Puder von Zombies. Die ständig vor Steinwald und Atamanov kreuzenden Vögel erzeugen die Wirkung harter Filmschnitte. Die beiden sehen aus wie hilflose Automaten, glubschäugig und stumm. Lichtreflexe zucken auf dem Blatt von Atamanovs Schaufel. Philipp denkt noch, daß die zwei Männer trotz des Grauens, in dem sie sich bewegen, weniger verblüfft scheinen, hier zu sein, als er, der ihnen zusieht. Dann hat Steinwald, schaufelschwingend, die Tür erreicht, versetzt ihr einen Tritt, daß Philipp Mühe hat, den Kopf rechtzeitig zurückzuziehen. Die Tür kracht vor seiner Nase ins Schloß.

Er bläst erleichtert Luft aus, atmet tief ein, und während er für mehrere Sekunden auf die Geräusche lauscht, die dumpf und traurig durch die Tür dringen, hält er sich dazu an, sich bei nächster Gelegenheit beeindruckt zu zeigen.

— Na also, du Sauvieh, warum nicht gleich! hört er Steinwald aus voller Kehle schreien.

Philipp verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. Dann geht er Stufe für Stufe die Stiege runter und schlägt mit den Händen nach dem Staub, der ihm, so befürchtet er, in Hemd und Hose gekrochen ist. Philipp geht raus, über den Kies des Vorplatzes, in den Garten, an die frische Luft. Nachdem eine herumstreunende Katze bei seinem Anblick in Jahrmarktsgeschrei ausgebrochen und ins Unterholz bei der Mauer geflüchtet ist, setzt er sich auf das ehemalige Postament des Schutzengels und zwar so, daß sich ihm ein ungehinderter Blick auf das Dachbodenfenster bietet.

Mittlerweile hat Atamanov mit seiner Schaufel auch das Glas des zweiten Fensterflügels zertrümmert. In loser Reihenfolge stürzen sich Vögel, denen Atamanov mit der Schaufel die Richtung weist, ins Freie. Atamanov verwehrt nach derselben Methode rückkehrwilligen Tauben die Landung auf dem Fensterbrett. So geht es dahin, gut eine halbe Stunde lang, bis etwa vierzig Tauben den Dachboden verlassen haben. Dann folgen die, die noch nicht flügge waren. Sie fallen tot von Atamanovs Schaufel und landen zwischen einem an der Hauswand lehnenden Stapel aus furchigem Brennholz und dem von Rost überwucherten Zaun des Gemüsegartens. Dead and gone. Die Katze stürzt aus dem Gestrüpp heraus und schafft sich mit einem zerfledderten Kadaver im Maul wieder davon. Philipp, der den Standpunkt vertritt, diesem Teil der Arbeit nicht beiwohnen zu müssen, seufzt leise und bahnt sich ebenfalls einen Weg durch den Garten, aber Richtung Mauer.

Es kann doch sein, sinniert er, daß ihm die Zeit mit Johanna irgendwann als unerheblicher Teil seines Lebens erscheint oder daß er sich endgültig damit abfindet, daß die Wolken vorüberziehen, ohne etwas zu versprechen oder zu halten, eine Schicht um die andere, den Himmel immer wieder entblößend, um begreiflich zu machen, wie es wirklich ist, Johannas Stimme wirklich ist, ihre Bewegungen wirklich sind, und daß er keine Wahlmöglichkeit hat, wenn er sich einbildet, Johanna zu lieben. Johanna hingegen nutzt die Tatsache, sich im gleichen Moment und seit knapp zehn Jahren abwechselnd nicht viel oder nicht genug aus ihm zu machen, um sich alle Optionen offenzuhalten. Die Wetterseite ihrer gemeinsamen Beziehung, ihres Beziehungsdramas, sozusagen. Und (denkt Philipp): Ich habe meinen Stolz, der mir etwas bewahrt, das mit Unschuld zu tun hat.

Das ist ein Gedanke, den er eigentlich noch weiterdenken will und sollte. Doch hat er mittlerweile den ersten Stuhl erstiegen und sich dank der schweren Handschuhe, die er trägt, an den Ziegeln des Mauerfirsts so weit hochgezogen, daß er in einen Teil des Gartens sieht, der bisher immer im toten Winkel gelegen ist und in dem ein Mann auf Knien und mit einer Drahtbürste Moos entfernt, das sich in den Fugen einer Reihe von Waschbetonplatten eingewuchert hat.

— Hallo! ruft Philipp.

Sogleich bringt ihm der Klang seiner Stimme in Erinnerung, daß er Gasmaske und Schutzbrille im Gesicht trägt. Der Mann schaut hoch unter erhobenen, buschig weißen Augenbrauen, stutzt auch, aber nur sehr kurz, verblüffend kurz. Philipp ist der Ansicht, er hätte etwas mehr Verwunderung verdient. Dann brüllt der Mann, indem er seine Faust in Philipps Richtung schwingt, er solle sich zum Teufel scheren, und zwar hurtig. Philipp schaut auf den Tobsüchtigen, gleichzeitig spürt er, daß sein Hemd hochgerutscht und unter dem Hemd der Bauchnabel hervorgekommen ist und daß von der Mauer Kälte abstrahlt. Er ist hin- und hergerissen zwischen den drohenden Gebärden des Mannes und dem angenehmen Gefühl an seinem entblößten Bauch. Eigentlich würde er gerne noch einen Moment so bleiben, die Beine in der Luft, die Armmuskeln gespannt. Doch der Mann ist bereits aufgesprungen und macht Anstalten, die Drahtbürste nach Philipp zu werfen, so daß Philipp lieber in Deckung geht. Verdutzt trottet er zum nächsten Stuhl. Nachdem er dort ein im Schlafzimmer der Großmutter eingestecktes Foto aus der Hosentasche geholt hat, setzt er sich nieder, denn von hinter der Mauer hört er Stimmen.