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— Ich muß mich sehr über dich wundern. Einer Fünfzehnjährigen würde dein Verhalten besser anstehen als einer Neunzehnjährigen. Daß du dich nicht schämst.

Ingrid nimmt auch dies kommentarlos zur Kenntnis. Sie verkündet Unwohlsein, das fühlt sich wie vorgeschützt an, obwohl ihr wirklich und wahrhaftig (sind das die Nerven?) im Magen flau ist.

— Mir ist nicht gut, sagt sie.

Daraufhin zieht sie sich zurück in ihr Zimmer. Während sie sich dort ankleidet, setzt sie sich mit der Tatsache auseinander, daß sie von niemandem außer Peter für voll genommen wird. Allein beim Gedanken an den vergangenen Fasching steigt eine solche Bitterkeit in ihr auf, daß sie sich am liebsten wieder ins Bett legen würde. Nicht, daß sie ihrem Vater einen Vorwurf macht, weil er von Peter wenig begeistert ist oder weil die Woche am Arlberg an seinem Njet gescheitert ist. Das ist Geschmackssache. Aber daß er sie in ihrer Liebe, die bestimmt nicht nur Oberfläche ist, in keiner Weise ernst nimmt und ihre Gefühle als Getue bezeichnet, dagegen lehnt sie sich auf. Ihr Vater behandelt sie wie ein Kind, dem man sein Spielzeug wegnehmen will, und jetzt, wo die Nachricht von der Verlobung durchgesickert ist, legt er eine Schaufel drauf, weil ihm diese Dummheit als ausreichender Beweis erscheint, zu welchen Unüberlegtheiten seine Tochter fähig ist. Präziser: daß sie in ihrer Vernarrtheit so weit überschnappt, daß sie mit Peter ins Bett geht. Etwas, was natürlich längst geschehen ist, für ihren Vater bislang aber nicht im Bereich des Vorstellbaren lag. Für ihn ist das sechste Gebot das erste Gebot. Es gibt nichts anderes, was eine ähnlich starke Bedrohung seiner Wertvorstellungen darstellt und eine ähnliche Beleidigung seines sozialen Ordnungssinns. Baum, Schlange, Apfel, Höllenhund, ewiges Feuer der Verdammnis und Garen bei lebendigem Leib. Lauter Synonyme für Liebe. Wenn ihr Vater wüßte, daß sie längst eine Frau ist, würde er sie vermutlich einsperren. Die Hühner sollen gefälligst im Stall bleiben.

— Ich will nur hoffen, daß die Vernunft bald wieder die Oberhand gewinnt.

Sie sitzen zu dritt beim Frühstück, Richard in einem seiner offiziellen Anzüge, er trinkt den Kaffee, indem er jeden Schluck mit einer ruckartigen Kopfbewegung nach hinten wirft. Als ihm Alma eine Semmel anbietet, lehnt er mit Rücksicht auf seinen Zahn ab. Reden hingegen scheint seine Schmerzen zu lindern; kann auch sein, es ist das Gesagte, was die Linderung herbeiführt, während die Schmerztabletten, die er im Bad eingeworfen hat, noch eine Viertelstunde brauchen, bis sie wirken.

— Denn eins will ich nicht unerwähnt lassen: Ich verhandle nicht jahrelang mit den Sowjets, damit meine Tochter in der Zwischenzeit den Verstand verliert. Siebzehn Jahre lang haben jetzt andere über uns bestimmt. Siebzehn Jahre nichts als Wortbruch, Lügen und Enttäuschungen. Ein halbes Leben lang habe ich eine katastrophale Störung um die andere über mich ergehen lassen. Und jetzt, wo sich die Verhältnisse ein wenig klären und man endlich wieder Herr im eigenen Haus wird, lasse ich mir den Unfrieden nicht von der eigenen Tochter hereintragen.

Er führt die Kaffeetasse zum Mund und nimmt mit bitterer Grimasse einen weiteren Schluck.

— Haben wir uns verstanden?

Nein.

Wenn Ingrid es sich überlegt, hält sie es für wahrscheinlich, daß auch Außenminister Figl Zahnweh hat und deshalb mehr trinkt, als ihm guttut. Überhaupt geht ihr die Großmannssucht ihres Vaters und der ganzen Komitatschibande, die mit den Verhandlungen betraut ist, auf den Wecker. Die mit ihrer Trinkfestigkeit. Als ob das etwas mit dem Staatsvertrag zu tun hätte. Als ob man die Russen mit Trinken beeindrucken könnte. Das weiß sie nun ganz bestimmt, den Russen fällt es gar nicht auf, wenn einer etwas verträgt, das sind sie gewohnt. Und schon gar nicht gewähren sie als Anerkennung für versiertes Trinken einen Staatsvertrag. Wenn das so einfach wäre, würden die Ungarn weniger Fußball spielen und statt dessen das Saufen üben. Wahrscheinlicher ist, daß vor fünf Jahren im Zentralkomitee des Obersten Sowjets, noch unter Stalin, beschlossen wurde, Österreich im Mai 1955 einen Staatsvertrag zu geben, und so wird’s gemacht, streng nach Plan, unabhängig vom Wodkawetter. Trotzdem lassen sich die Herrschaften in der Bundesregierung für ihre Ausdauer und ihr Verhandlungsgeschick feiern, fehlt nur, daß es in der Zeitung heißt, der Staatsvertrag wäre schon früher zustande gekommen, wenn man während der ersten Jahre besser genährt gewesen wäre. Die Erbsenlieferungen der Sowjets werden regelrecht zu einem nationalen Woyzeck-Schicksal umgedeutet. Echt kurios. Hat er schon seine Erbsen gegessen? Er ist ein interessanter Kasus, Subjekt Österreicher. Und die salbungsvollen Reden, die demnächst wieder am Mittagstisch einstudiert werden, ziehen ihr schon im voraus den Nerv. Wenn aber ihr Vater wissen will, was wahrhaft harte Positionen sind, dann soll er, sowie er mit den Moskauer Unterhändlern zu einer Einigung gelangt ist, vom Gebäude des Aliierten Rates schnurstracks nach Hause kommen und versuchen, in die Tat umzusetzen, womit er gerade droht: Daß er den Kontakt zwischen ihr und Peter unterbinden wird. Nur zu, das wollen wir mal sehen, dann wird sich zeigen, wofür die Erfahrungen, die er beim homo sovieticus gesammelt hat, zu gebrauchen sind, da wird er nämlich gegen eine Wand laufen, weil er nicht mit dieser wunderbaren Liebe rechnet. Dann schaltet Ingrid ebenfalls auf stur, ihr geht nichts ab, es kann ruhig bleiben, wie es ist, nach dem Motto, magst du mich nicht, mag ich dich nicht. Sie holt es sich woanders. Sollte ihr Vater aber an der Beziehung zu seiner Tochter interessiert sein und ihr zuliebe auf seine Machtausübung verzichten, so wäre das eine echte Liebesbezeugung, die Ingrid von ihrem harten Kurs abbringen könnte. Klar, wie es sich aus ihrer Sicht darstellt, ist das höchst unwahrscheinlich, ein paar Kompromisse wird ihr Vater vielleicht eingehen, aber nur die allermindesten, das ist die Art, wie er denkt, und es ist auch die Art, wie sie selbst denkt. Das Leben wird aus Kompromissen bestehen, mit den Eltern, mit den Sowjets, mit Peter, mit den Kindern, die sie irgendwann mit Peter haben wird.

Sie greift sich an den Bauch, eine fast schon reflexartige Bewegung. Das sind jetzt mehr als fünf Wochen. Dann streicht sie Honig auf ihre Semmel, und während ihr Vater weiterredet, über Flegel und Rotzlöffel (gemeint ist Peter) und über Strafe muß sein (das gilt ihr), stellt sie sich die Gewissensfrage, ob sie ihren Vater liebt. Und wenn ja, wie sehr? Gute Frage. Aber wie soll sie jemanden lieben, der sich ihrem Glück in den Weg stellt? Jemanden, der kein Argument gelten läßt, das mit Empfindungen zu tun hat? Weil Empfindungen unzuverlässig sind. Weil die Liebe eine Landplage ist. Einen Analphabeten des Gefühls? (Das hat sie in einem Roman gelesen.) Nichts als Vernunftgründe. Grauenhaft. Grauenhaft. Also Antwort: Nein. Respektieren: Ja. Aber lieben: Nein. Und weiter: Ob dann wenigstens ihre Mutter ihn liebt? Nicht weniger gute Frage. Antwort: Vielleicht. (Es ist also nicht unbedingt auszuschließen.)

Ingrid mustert ihre Eltern (verstohlen?): Einerseits die Verkörperung des vorbildlichen Patrioten, dem böse Mächte das Leben schwermachen und der fürchten muß, daß durch Risse und aufgeplatzte Nähte unreiner Geist in die österreichische Seele eindringt. Andererseits die im Mahlwerk der Ehe schon etwas rundgeschliffene Hausfrau, Flötenspielerin und Bienenzüchterin, die sich aus allen Konflikten heraushält, Moment, nein, die nur so tut, als würde sie sich heraushalten, die gleichzeitig im Hintergrund zu glätten versucht, was zu glätten geht, und von der man fairerweise sagen muß, daß sie beiläufig bei ihrem Mann mehr ausrichtet als Ingrid mit offenem Revoltieren. Manchmal hat Ingrid den Eindruck, daß (wenn es auch gewiß nicht die ideale Liebe ist) hinter dem, was ihre Eltern verbindet, nach wie vor mehr steckt als nur Gewohnheit.